Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
verschiedenartigen Ursprung jener Formen der Urtheile, welche die Tafel vor Augen legt, weiter kein Zweifel seyn, wie auch nicht über die Unzulässigkeit und gänzliche Grundlosigkeit der Annahme von zwölf besonderen Funktionen des Verstandes zur Erklärung derselben. Von dieser letztem geben auch schon manche einzelne und sehr leicht zu machende Bemerkungen Anzeige. So gehört z.B. große Liebe zur Symmetrie und viel Vertrauen zu einem von ihr genommenen Leitfaden dazu, um anzunehmen, ein bejahendes, ein kategorisches und ein assertorisches Urtheil seien drei so grundverschiedene Dinge, daß sie berechtigten, zu jedem derselben eine ganz eigenthümliche Funktion des Verstandes anzunehmen.
Das Bewußtsein der Unhaltbarkeit seiner Kategorienlehre verräth Kant selbst dadurch, daß er im dritten Hauptstück der Analysis der Grundsätze (phaenomena et noumena ) aus der ersten Auflage mehrere lange Stellen (nämlich S. 241, 242, 244-246, 248-253) in der zweiten Auflage weggelassen hat, welche die Schwäche jener Lehre zu unverhohlen an den Tag legten. So z.B. sagt er daselbst, S. 241, er habe die einzelnen Kategorien nicht definirt, weil er sie nicht definiren konnte, auch wenn er es gewollt hätte, indem sie keiner Definition fähig seien; – er hatte hiebei vergessen, daß er S. 82 der selben ersten Auflage gesagt hatte: »Der Definition der Kategorien überhebe ich mich geflissentlich, ob ich gleich im Besitz derselben seyn möchte.« – Dies war also – sit venia verbo – Wind. Diese letztere Stelle hat er aber stehn lassen. Und so verrathen alle jene nachher weislich weggelassenen Stellen, daß sich bei den Kategorien nichts Deutliches denken läßt und diese ganze Lehre auf schwachen Füßen steht.
Diese Kategorientafel soll nun der Leitfaden seyn, nach welchem jede metaphysische, ja, jede wissenschaftliche Betrachtung anzustellen ist. (Prolegomena, § 39.) Und in der That ist sie nicht nur die Grundlage der ganzen Kantischen Philosophie und der Typus, nach welchem deren Symmetrie überall durchgeführt wird, wie ich bereits oben gezeigt habe; sondern sie ist auch recht eigentlich das Bett des Prokrustes geworden, in welches Kant jede mögliche Betrachtung hineinzwängt, durch eine Gewaltthätigkeit, die ich jetzt noch etwas näher betrachten werde. Was mußten aber bei einer solchen Gelegenheit nicht erst die imitatores, servum pecus thun! Man hat es gesehn. Jene Gewaltthätigkeit also wird dadurch ausgeübt, daß man die Bedeutung der Ausdrücke, welche die Titel, Formen der Urtheile und Kategorien bezeichnen, ganz bei Seite setzt und vergißt, und sich allein an diese Ausdrücke selbst hält. Diese haben zum Theil ihren Ursprung aus des Aristoteles Analyt. priora, I, 23 (peri poiotêtos kai posotêtos tôn tou syllogismou horôn : de qualitate et quantitate terminorum syllogismi) , sind aber willkürlich gewählt: denn den Umfang der Begriffe hätte man auch wohl noch anders, als durch das Wort Quantität , bezeichnen können, obwohl gerade dieses noch besser, als die übrigen Titel der Kategorien, zu seinem Gegenstande paßt. Schon das Wort Qualität hat man offenbar nur gewählt aus der Gewohnheit, der Quantität die Qualität gegenüber zu stellen: denn für Bejahung und Verneinung ist der Name Qualität doch wohl willkürlich genug ergriffen. Nun aber wird von Kant, bei jeder Betrachtung, die er anstellt, jede Quantität in Zeit und Raum, und jede mögliche Qualität von Dingen, physische, moralische u.s.w. unter jene Kategorientitel gebracht, obgleich zwischen diesen Dingen und jenen Titeln der Formen des Urtheilens und Denkens nicht das mindeste Gemeinsame ist, außer der zufälligen, willkürlichen Benennung. Man muß alle Hochachtung, die man Kanten übrigens schuldig ist, sich gegenwärtig halten, um nicht seinen Unwillen über dieses Verfahren in harten Ausdrücken zu äußern. – Das nächste Beispiel liefert uns gleich die reine physiologische Tafel allgemeiner Grundsätze der Naturwissenschaft. Was, in aller Welt, hat die Quantität der Urtheile damit zu thun, daß jede Anschauung eine extensive Größe hat? was die Qualität der Urtheile damit, daß jede Empfindung einen Grad hat? – Ersteres beruht vielmehr darauf, daß der Raum die Form unserer äußern Anschauung ist, und Letzteres ist nichts weiter, als eine empirische und noch dazu ganz subjektive Wahrnehmung, bloß aus der Betrachtung der Beschaffenheit unserer Sinnesorgane geschöpft. – Ferner auf der Tafel, welche den Grund zur
Weitere Kostenlose Bücher