Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
dessen sehr wenige Menschen fähig sind. Was in diesem Sinne praktische Vernunft heißt, wird so ziemlich durch das Lateinische Wort prudentia (Umsicht, Lebensklugheit), welches nach Cicero (De nat. Deor., II, 22) , das zusammengezogene providentia ist, bezeichnet; da hingegen ratio , wenn von einer Geisteskraft gebraucht, meistens die eigentliche theoretische Vernunft bedeutet, wiewohl die Alten den Unterschied nicht strenge beobachten. – In fast allen Menschen hat die Vernunft eine beinahe ausschließlich praktische Richtung: wird nun aber auch diese verlassen, verliert das Denken die Herrschaft über das Handeln, wo es dann heißt: Scio meliora, proboque, deteriora sequor , oder »Le matin je fais des projets, et le soir je fais des sottises« , läßt also der Mensch sein Handeln nicht durch sein Denken geleitet werden, sondern durch den Eindruck der Gegenwart, fast nach Weise des Thieres, so nennt man ihn unvernünftig (ohne dadurch ihm moralische Schlechtigkeit vorzuwerfen), obwohl es Ihm eigentlich nicht an Vernunft, sondern an Anwendung derselben auf sein Handeln fehlt, und man gewissermaaßen sagen könnte, seine Vernunft sei lediglich theoretisch, aber nicht praktisch. Er kann dabei ein recht guter Mensch seyn, wie Mancher, der keinen Unglücklichen sehn kann, ohne ihm zu helfen, selbst mit Aufopferung, hingegen seine Schulden unbezahlt läßt. Der Ausübung großer Verbrechen ist ein solcher unvernünftiger Charakter gar nicht fähig, weil die dabei immer nöthige Planmäßigkeit, Verstellung und Selbstbeherrschung ihm unmöglich ist. Zu einem sehr hohen Grade von Tugend wird er es jedoch auch schwerlich bringen: denn, wenn er auch von Natur noch so sehr zum Guten geneigt ist; so können doch die einzelnen lasterhaften und boshaften Aufwallungen, denen jeder Mensch unterworfen ist, nicht ausbleiben und müssen, wo nicht Vernunft sich praktisch erzeigend, ihnen unveränderliche Maximen und feste Vorsätze entgegenhält, zu Thaten werden.
Als praktisch zeigt sich endlich die Vernunft ganz eigentlich in den recht vernünftigen Charakteren, die man deswegen im gemeinen Leben praktische Philosophen nennt, und die sich auszeichnen durch einen ungemeinen Gleichmuth bei unangenehmen, wie bei erfreulichen Vorfällen, gleichmäßige Stimmung und festes Beharren bei gefaßten Entschlüssen. In der That ist es das Vorwalten der Vernunft in ihnen, d.h. das mehr abstrakte, als intuitive Erkennen und daher das Ueberschauen des Lebens, mittelst der Begriffe, im Allgemeinen, Ganzen und Großen, welches sie ein für alle Mal bekannt gemacht hat mit der Täuschung des momentanen Eindrucks, mit dem Unbestand aller Dinge, der Kürze des Lebens, der Leerheit der Genüsse, dem Wechsel des Glücks und den großen und kleinen Tücken des Zufalls. Nichts kommt ihnen daher unerwartet, und was sie in abstracto wissen, überrascht sie nicht und bringt sie nicht aus der Fassung, wann es nun in der Wirklichkeit und im Einzelnen ihnen entgegentritt, wie dieses der Fall ist bei den nicht so vernünftigen Charakteren, auf welche die Gegenwart, das Anschauliche, das Wirkliche solche Gewalt ausübt, daß die kalten, farblosen Begriffe ganz in den Hintergrund des Bewußtseins treten und sie, Vorsätze und Maximen vergessend, den Affekten und Leidenschaften jeder Art preisgegeben sind. Ich habe bereits am Ende des ersten Buches auseinandergesetzt, daß, meiner Ansicht nach, die Stoische Ethik ursprünglich nichts, als eine Anweisung zu einem eigentlich vernünftigen Leben, in diesem Sinne, war. Ein solches preiset auch Horatius wiederholentlich an sehr vielen Stellen. Dahin gehört auch sein Nil admirari , und dahin ebenfalls das Delphische Mêden agan . Nil admirari mit »Nichts bewundern« zu übersetzen ist ganz falsch. Dieser Horazische Ausspruch geht nicht sowohl auf das Theoretische, als auf das Praktische, und will eigentlich sagen: »Schätze keinen Gegenstand unbedingt, vergaffe dich in nichts, glaube nicht, daß der Besitz irgend einer Sache Glücksäligkeit verleihen könne: jede unsägliche Begierde auf einen Gegenstand ist nur eine neckende Chimäre, die man eben so gut, aber viel leichter, durch verdeutlichte Erkenntniß, als durch errungenen Besitz, los werden kann.« In diesem Sinne gebraucht das admirari auch Cicero, De divinatione, II, 2. Was Horaz meint, ist also die athambia und akataplêxis , auch athaumasia , welche schon Demokritos als das höchste Gut pries (siehe Clem. Alex. Strom., II, 21 , und vgl. Strabo, 1, S.
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