Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
von allen Philosophen aller Zeiten im Ganzen und Allgemeinen richtig erkannt, obwohl nicht scharf genug bestimmt, noch auf einen Punkt zurückgeführt wurde; so ist hingegen was der Verstand ( nous, dianoia , intellectus, esprit, intellect, understanding) sei, ihnen nicht so deutlich geworden; daher sie ihn oft mit der Vernunft vermischen und eben dadurch auch zu keiner ganz vollkommenen, reinen und einfachen Erklärung des Wesens dieser gelangen. Bei den Christlichen Philosophen erhielt nun der Begriff der Vernunft noch eine ganz fremdartige Nebenbedeutung, durch den Gegensatz zur Offenbarung, und hievon ausgehend behaupten dann Viele, mit Recht, daß die Erkenntniß der Verpflichtung zur Tugend auch aus bloßer Vernunft, d.h. auch ohne Offenbarung, möglich sei. Sogar auf Kants Darstellung und Wortgebrauch hat diese Rücksicht gewiß Einfluß gehabt. Allein jener Gegensatz ist eigentlich von positiver, historischer Bedeutung und daher ein der Philosophie fremdes Element, von welchem sie frei gehalten werden muß.
Man hätte erwarten dürfen, daß Kant in seinen Kritiken der theoretischen und praktischen Vernunft ausgegangen seyn würde von einer Darstellung des Wesens der Vernunft überhaupt, und, nachdem er so das Genus bestimmt hätte, zur Erklärung der beiden Species geschritten wäre, nachweisend, wie die eine und selbe Vernunft sich auf zwei so verschiedene Weisen äußert und doch, durch Beibehaltung des Hauptcharakters, sich als die selbe beurkundet. Allein von dem allen findet sich nichts. Wie ungenügend, schwankend und disharmonirend die Erklärungen sind, die er in der Kritik der reinen Vernunft von dem Vermögen, welches er kritisiert, hin und wieder beiläufig giebt, habe ich bereits nachgewiesen. Die praktische Vernunft findet sich schon in der Kritik der reinen Vernunft unangemeldet ein und steht nachher, in der ihr eigens gewidmeten Kritik, als ausgemachte Sache da, ohne weitere Rechenschaft und ohne daß der mit Füßen getretene Sprachgebrauch aller Zeiten und Völker, oder die Begriffsbestimmungen der größten früheren Philosophen ihre Stimmen erheben dürfen. Im Ganzen kann man aus den einzelnen Stellen abnehmen, daß Kants Meinung dahin geht: das Erkennen von Principien a priori sei wesentlicher Charakter der Vernunft: da nun die Erkenntniß der ethischen Bedeutsamkeit des Handelns nicht empirischen Ursprungs ist; so ist auch sie ein principium a priori und stammt demnach aus der Vernunft, die dann insofern praktisch ist. – Ueber die Unrichtigkeit jener Erklärung der Vernunft habe ich schon genugsam geredet. Aber auch hievon abgesehn, wie oberflächlich und ungründlich ist es, hier das einzige Merkmal der Unabhängigkeit von der Erfahrung zu benutzen, um die heterogensten Dinge zu vereinigen, ihren übrigen, grundwesentlichen, unermeßlichen Abstand dabei übersehend. Denn auch angenommen, wiewohl nicht zugestanden, die Erkenntniß der ethischen Bedeutsamkeit des Handelns entspringe aus einem in uns liegenden Imperativ, einem unbedingten Soll ; wie grundverschieden wäre doch ein solches von jenen allgemeinen Formen der Erkenntniß , welche er in der Kritik der reinen Vernunft als a priori uns bewußt nachweist, vermöge welches Bewußtseins wir ein unbedingtes Muß zum Voraus aussprechen können, gültig für alle mögliche Erfahrung. Der Unterschied aber zwischen diesem Muß , dieser schon im Subjekt bestimmten nothwendigen Form des Objekts, und jenem Soll der Moralität, ist so himmelweit und so augenfällig, daß man das Zusammentreffen Beider im Merkmal der nichtempirischen Erkenntnißart wohl als ein witziges Gleichniß, nicht aber als eine philosophische Berechtigung zur Identificirung des Ursprungs Beider geltend machen kann.
Uebrigens ist die Geburtsstätte dieses Kindes der praktischen Vernunft, des absoluten Solls oder kategorischen Imperativs, nicht in der Kritik der praktischen, sondern schon in der reinen Vernunft, S. 802; v, 830. Die Geburt ist gewaltsam und gelingt nur mittelst der Geburtszange eines Daher , welches keck und kühn, ja man möchte sagen unverschämt, sich zwischen zwei einander wildfremde und keinen Zusammenhang habende Sätze stellt, um sie als Grund und Folge zu verbinden. Nämlich, daß nicht bloß anschauliche, sondern auch abstrakte Motive uns bestimmen, ist der Satz, von dem Kant ausgeht, ihn folgendermaaßen ausdrückend: »Nicht bloß was reizt, d.i. die Sinne unmittelbar afficirt, bestimmt die menschliche Willkür; sondern wir haben ein
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