Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
lange und so mühsam vorbereitete Rache aufgiebt, ja sogar, indem er dadurch den gerechten Zorn der Volsker auf sich ladet, für jene Römer stirbt, deren Undankbarkeit er kennt und mit so großer Anstrengung strafen gewollt hat. – Endlich, der Vollständigkeit wegen sei es erwähnt, kann Vernunft sehr wohl mit Unverstand sich vereinigen. Dies ist der Fall, wann eine dumme Maxime gewählt, aber mit Konsequenz durchgeführt wird. Ein Beispiel der Art gab die Prinzessin Isabella, Tochter Philipp's II., welche gelobte, so lange Ostende nicht erobert worden, kein reines Hemd anzuziehn, und Wort hielt, drei Jahre hindurch. Ueberhaupt gehören alle Gelübde hieher, deren Ursprung allemal Mangel an Einsicht gemäß dem Gesetz der Kausalität, d.h. Unverstand ist; nichts desto weniger ist es vernünftig, sie zu erfüllen, wenn man ein Mal von so beschränktem Verstande ist, sie zu geloben.
Dem Angeführten entsprechend sehn wir auch die noch dicht vor Kant auftretenden Schriftsteller das Gewissen, als den Sitz der moralischen Regungen, mit der Vernunft in Gegensatz stellen: so Rousseau im vierten Buche des Émile: La raison nous trompe, mais la conscience ne trompe jamais ; und etwas weiterhin: il est impossible d'expliquer par les conséquences de notre nature le principe immédiat de la conscience indépendant de la raison même . Noch weiter: Mes sentimens naturels parlaient pour l'intérêt commun, ma raison rapportait tout à moi. – – – On a beau vouloir établir la vertu par la raison seule, quelle solide base peut-on lui donner? – In den Rêveries du promeneur, prom. 4ème , sagt er: Dans toutes les questions de morale difficiles je me suis toujours bien trouvé de les résoudre par le dictamen de la conscience , plutôt que par les lumières de la raison . – Ja, schon Aristoteles sagt ausdrücklich (Eth. magna, I, 5) , daß die Tugenden ihren Sitz im alogô moriô tês psychês (in parte irrationali animi) haben und nicht im logos echonti (in parte rationali) . Diesem gemäß sagt Stobäos (Ecl., II, c. 7) , von den Peripatetikern redend: Tên êthikên aretên hypolambanousi peri to alogon meros gignesthai tês psychês, epeidê dimerê pros tên parousan theôrian hypethento tên psychên, to men logikon echousan, to d' alogon. Kai peri men to logikon tên kalokagathian gignesthai, kai tên phronêsin, kai tên anchinoian, kai sophian, kai eumatheian, kai mnêmên, kai tas homoious; peri de to alogon, sôphrosynên, kai dikaiosynên, kai andreian, kai tas allas tas êthikas kaloumenas aretas . (Ethicam virtutem circa partem animae ratione carentem versari putant, cum duplicem, ad hanc disquisitionem, animam ponant, ratione praeditam, et ea carentem. In parte vero ratione praedita collocant ingenuitatem, prudentiam, perspicacitatem, sapientiam, docilitatem, memoriam et reliqua; in parte vero ratione destituta temperantiam, justitiam, fortitudinem, et reliquas virtutes, quas ethicas vocant.) Und Cicero setzt (De nat. Deor., III, c. 26-31) weitläuftig auseinander, daß Vernunft das nothwendige Mittel und Werkzeug zu allen Verbrechen ist.
Für das Vermögen der Begriffe habe ich die Vernunft erklärt. Diese ganz eigene Klasse allgemeiner, nicht anschaulicher, nur durch Worte symbolisirter und fixirter Vorstellungen ist es, die den Menschen vom Thiere unterscheidet und ihm die Herrschaft auf Erden giebt. Wenn das Thier der Sklave der Gegenwart ist, keine andere, als unmittelbar sinnliche Motive kennt und daher, wenn sie sich ihm darbieten, so nothwendig von ihnen gezogen oder abgestoßen wird, wie das Eisen vom Magnet; so ist dagegen im Menschen durch die Gabe der Vernunft die Besonnenheit aufgegangen. Diese läßt ihn, rückwärts und vorwärts blickend, sein Leben und den Lauf der Welt leicht, im Ganzen übersehn, macht ihn unabhängig von der Gegenwart, läßt ihn überlegt, planmäßig und mit Bedacht zu Werke gehn, zum Bösen wie zum Guten. Aber was er thut, thut er mit vollkommnem Selbstbewußtseyn: er weiß genau, wie sein Wille sich entscheidet, was er jedesmal erwählt und welche andere Wahl, der Sache nach, möglich war, und aus diesem selbstbewußten Wollen lernt er sich selbst kennen und spiegelt sich an seinen Thaten. In allen diesen Beziehungen auf das Handeln des Menschen ist die Vernunft praktisch zu nennen: theoretisch ist sie nur, sofern die Gegenstände, mit denen sie sich beschäftigt, auf das Handeln des Denkenden keine Beziehung, sondern lediglich ein theoretisches Interesse haben,
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