Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)

Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)

Titel: Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arthur Schopenhauer
Vom Netzwerk:
98 und 105). – Von Tugend und Laster ist bei solcher Vernünftigkeit des Wandels eigentlich nicht die Rede, aber dieser praktische Gebrauch der Vernunft macht das eigentliche Vorrecht, welches der Mensch vor dem Thiere hat, geltend, und allein in dieser Rücksicht hat es einen Sinn und ist zulässig von einer Würde des Menschen zu reden.
    In allen dargestellten und in allen erdenklichen Fällen läuft der Unterschied zwischen vernünftigem und unvernünftigem Handeln darauf zurück, ob die Motive abstrakte Begriffe, oder anschauliche Vorstellungen sind. Daher eben stimmt die Erklärung, welche ich von der Vernunft gegeben, genau mit dem Sprachgebrauch aller Zeiten und Völker zusammen, welchen selbst man doch wohl nicht für etwas Zufälliges oder Beliebiges halten wird, sondern einsehn, daß er eben hervorgegangen ist aus dem jedem Menschen bewußten Unterschiede der verschiedenen Geistesvermögen, welchem Bewußtseyn gemäß er redet, aber freilich es nicht zur Deutlichkeit abstrakter Definition erhebt. Unsere Vorfahren haben nicht die Worte, ohne ihnen einen bestimmten Sinn beizulegen, gemacht, etwan damit sie bereit lägen für Philosophen, die nach Jahrhunderten kommen und bestimmen möchten, was dabei zu denken seyn sollte; sondern sie bezeichneten damit ganz bestimmte Begriffe. Die Worte sind also nicht mehr herrenlos, und ihnen einen ganz andern Sinn unterlegen, als den sie bisher gehabt, heißt sie mißbrauchen, heißt eine Licenz einführen, nach der Jeder jedes Wort in beliebigem Sinn gebrauchen könnte, wodurch gränzenlose Verwirrung entstehn müßte. Schon Locke hat ausführlich dargethan, daß die meisten Uneinigkeiten in der Philosophie vom falschen Gebrauch der Worte kommen. Man werfe, der Erläuterung halber, nur einen Blick auf den schändlichen Mißbrauch, den heut zu Tage gedankenarme Philosophaster mit den Worten Substanz, Bewußtsein, Wahrheit u.a.m. treiben. Auch die Aeußerungen und Erklärungen aller Philosophen, aus allen Zeiten, mit Ausnahme der neuesten, über die Vernunft, stimmen nicht weniger, als die unter allen Völkern herrschenden Begriffe von jenem Vorrecht des Menschen, mit meiner Erklärung davon überein. Man sehe was Plato, im vierten Buche der Republik und an unzähligen zerstreuten Stellen, das logikon oder logistikon tês psychês nennt, was Cicero sagt, De nat. Deor., III, 26-31 , was Leibnitz, Locke in den im ersten Buch bereits angeführten Stellen hierüber sagen. Es würde hier der Anführungen gar kein Ende seyn, wenn man zeigen wollte, wie alle Philosophen vor Kant von der Vernunft im Ganzen in meinem Sinn geredet haben, wenn sie gleich nicht mit vollkommener Bestimmtheit und Deutlichkeit das Wesen derselben, durch dessen Zurückführung auf einen Punkt, zu erklären wußten. Was man kurz vor Kants Auftreten unter Vernunft verstand, zeigen im Ganzen zwei Abhandlungen von Sulzer, im ersten Bande seiner vermischten philosophischen Schriften: die eine, »Zergliederung des Begriffes der Vernunft«, die andere, »Ueber den gegenseitigen Einfluß von Vernunft und Sprache«. Wenn man dagegen liest, wie in der neuesten Zeit, durch den Einfluß des Kantischen Fehlers, der sich nachher lawinenartig vergrößert hat, von der Vernunft geredet wird; so ist man genöthigt anzunehmen, daß sämmtliche Weisen des Alterthums, wie auch alle Philosophen vor Kant, ganz und gar keine Vernunft gehabt haben: denn die jetzt entdeckten unmittelbaren Wahrnehmungen, Anschauungen, Vernehmungen, Ahndungen der Vernunft sind ihnen so fremd geblieben, wie uns der sechste Sinn der Fledermäuse ist. Was übrigens mich betrifft, so muß ich bekennen, daß ich ebenfalls jene das Uebersinnliche, das Absolutum, nebst langen Geschichten, die sich mit demselben zutragen, unmittelbar wahrnehmende, oder auch vernehmende, oder intellektual anschauende Vernunft mir, in meiner Beschränktheit, nicht anders faßlich und vorstellig machen kann, als gerade so, wie den sechsten Sinn der Fledermäuse. Das aber muß man der Erfindung, oder Entdeckung, einer solchen Alles was beliebt sogleich unmittelbar wahrnehmenden Vernunft nachrühmen, daß sie ein unvergleichliches expédient ist, um allen Kanten mit ihren Vernunftkritiken zum Trotz sich und seine fixirten Favoritideen auf die leichteste Weise von der Welt aus der Affäre zu ziehn. Die Erfindung und die Aufnahme, welche sie gefunden, macht dem Zeitalter Ehre.
    Wenn gleich also das Wesentliche der Vernunft ( to logimon, hê phronêsis , ratio, raison, reason)

Weitere Kostenlose Bücher