Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
Auges geschickt, dem Verstande die so mannigfaltigen und so fein nüancirten Data zu liefern, aus denen er, mittelst Anwendung des Kausalitätsgesetzes und auf Grundlage der reinen Anschauungen Raum und Zeit, die wundervolle objektive Welt in unserm Kopfe aufbaut. Eben jene Wirkungslosigkeit der Farbenempfindungen auf den Willen befähigt sie, wann ihre Energie durch Transparenz erhöht ist, wie beim Abendroth, gefärbten Fenstern u. dgl., uns sehr leicht in den Zustand der rein objektiven, willenlosen Anschauung zu versetzen, welche, wie ich im dritten Buche nachgewiesen habe, einen Hauptbestandtheil des ästhetischen Eindrucks ausmacht. Eben diese Gleichgültigkeit in Bezug auf den Willen eignet die Laute, den Stoff der Bezeichnung für die endlose Mannigfaltigkeit der Begriffe der Vernunft abzugeben.
Indem der äußere Sinn , d.h. die Empfänglichkeit für äußere Eindrücke als reine Data für den Verstand, sich in fünf Sinne spaltete, richteten diese sich nach den vier Elementen, d.h. den vier Aggregationszuständen, nebst dem der Imponderabilität. So ist der Sinn für das Feste (Erde) das Getast, für das Flüssige (Wasser) der Geschmack, für das Dampfförmige, d.h. Verflüchtigte (Dunst, Duft) der Geruch, für das permanent Elastische (Luft) das Gehör, für das Imponderabile (Feuer, Licht) das Gesicht. Das zweite Imponderabile, Wärme, ist eigentlich kein Gegenstand der Sinne, sondern des Gemeingefühls, wirkt daher auch stets direkt auf den Willen , als angenehm oder unangenehm. Aus dieser Klassifikation ergiebt sich auch die relative Dignität der Sinne. Das Gesicht hat den ersten Rang, sofern seine Sphäre die am weitesten reichende, und seine Empfänglichkeit die feinste ist; was darauf beruht, daß sein Anregendes ein Imponderabile, d.h. ein kaum noch Körperliches, ein quasi Geistiges, ist. Den zweiten Rang hat das Gehör, entsprechend der Luft. Inzwischen bleibt das Getast ein gründlicher und vielseitiger Gelehrter. Denn während die andern Sinne uns jeder nur eine ganz einseitige Beziehung des Objekts, wie seinen Klang, oder sein Verhältniß zum Licht, angeben, liefert das, mit dem Gemeingefühl und der Muskelkraft fest verwachsene Getast dem Verstande die Data zugleich für die Form, Größe, Härte, Glätte, Textur, Festigkeit, Temperatur und Schwere der Körper, und dies Alles mit der geringsten Möglichkeit des Scheines und der Täuschung, denen alle andern Sinne weit mehr unterliegen. Die beiden niedrigsten Sinne, Geruch und Geschmack, sind schon nicht mehr frei von einer unmittelbaren Erregung des Willens , d.h. sie werden stets angenehm oder unangenehm afficirt, sind daher mehr subjektiv als objektiv.
Die Wahrnehmungen des Gehörs sind ausschließlich in der Zeit : daher das ganze Wesen der Musik im Zeitmaaß besteht, als worauf sowohl die Qualität oder Höhe der Töne, mittelst der Vibrationen, als die Quantität oder Dauer derselben, mittelst des Taktes, beruht. Die Wahrnehmungen des Gesichts hingegen sind zunächst und vorwaltend im Raume ; sekundär, mittelst ihrer Dauer, aber auch in der Zeit.
Das Gesicht ist der Sinn des Verstandes , welcher anschaut, das Gehör der Sinn der Vernunft , welche denkt und vernimmt. Worte werden durch sichtbare Zeichen nur unvollkommen vertreten: daher zweifle ich, daß ein Taubstummer, der lesen kann, aber vom Laute der Worte keine Vorstellung hat, in seinem Denken mit den bloß sichtbaren Begriffszeichen so behende operirt, wie wir mit den wirklichen, d.h. hörbaren Worten. Wenn er nicht lesen kann, ist er bekanntlich fast dem unvernünftigen Thiere gleich; während der Blindgeborene, von Anfang an, ein ganz vernünftiges Wesen ist.
Das Gesicht ist ein aktiver , das Gehör ein passiver Sinn. Daher wirken Töne störend und feindlich auf unsern Geist ein, und zwar um so mehr, je thätiger und entwickelter dieser ist: sie zerreißen alle Gedanken, zerrütten momentan die Denkkraft. Hingegen giebt es keine analoge Störung durch das Auge, keine unmittelbare Einwirkung des Gesehenen, als solchen , auf die denkende Thätigkeit (denn natürlich ist hier nicht die Rede von dem Einfluß der erblickten Gegenstände auf den Willen); sondern die bunteste Mannigfaltigkeit von Dingen, vor unsern Augen, läßt ein ganz ungehindertes, ruhiges Denken zu. Demzufolge lebt der denkende Geist mit dem Auge in ewigem Frieden, mit dem Ohr in ewigem Krieg. Dieser Gegensatz der beiden Sinne bewährt sich auch darin, daß Taubstumme, wenn durch Galvanismus hergestellt,
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