Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
Das, was sie so unempfindlich macht gegen Lerm jeder Art, macht sie auch unempfindlich gegen das Schöne in den bildenden, und das tief Gedachte oder fein Ausgedrückte in den redenden Künsten, kurz, gegen Alles, was nicht ihr persönliches Interesse angeht. Auf die paralysirende Wirkung, welche hingegen das Geräusch auf die Geistreichen ausübt, findet folgende Bemerkung Lichtenbergs Anwendung: »Es ist allemal ein gutes Zeichen, wenn Künstler von Kleinigkeiten gehindert werden können, ihre Kunst gehörig auszuüben. F..... steckte seine Finger in Hexenmehl, wenn er Klavier spielen wollte. – – – Den mittelmäßigen Kopf hindern solche Sachen nicht; – – – er führt gleichsam ein grobes Sieb.« (Vermischte Schriften, Bd. 1, S. 398.) Ich hege wirklich längst die Meinung, daß die Quantität Lerm, die Jeder unbeschwert vertragen kann, in umgekehrtem Verhältniß zu seinen Geisteskräften steht, und daher als das ungefähre Maaß derselben betrachtet werden kann. Wenn ich daher auf dem Hofe eines Hauses die Hunde stundenlang unbeschwichtigt bellen höre; so weiß ich schon, was ich von den Geisteskräften der Bewohner zu halten habe. Wer habituell die Stubenthüren, statt sie mit der Hand zu schließen, zuwirft, oder es in seinem Hause gestattet, ist nicht bloß ein ungezogener, sondern auch ein roher und bornirter Mensch. Daß im Englischen sensible auch »verständig« bedeutet, beruht demnach auf einer richtigen und feinen Beobachtung. Ganz civilisirt werden wir erst seyn, wann auch die Ohren nicht mehr vogelfrei seyn werden und nicht mehr Jedem das Recht zustehn wird, das Bewußtsein jedes denkenden Wesens, auf tausend Schritte in die Runde, zu durchschneiden mittelst Pfeifen, Heulen, Brüllen, Hämmern, Peitschenklatschen, Bellenlassen u. dgl. Die Sybariten hielten die lermenden Handwerke außerhalb der Stadt gebannt: die ehrwürdige Sekte der Shakers in Nordamerika duldet kein unnöthiges Geräusch in ihren Dörfern: von den Herrnhutern wird das Gleiche berichtet. – Ein Mehreres über diesen Gegenstand findet man im dreißigsten Kapitel des zweiten Bandes der Parerga.
Aus der dargelegten passiven Natur des Gehörs erklärt sich auch die so eindringende, so unmittelbare, so unfehlbare Wirkung der Musik auf den Geist, nebst der ihr bisweilen folgenden, in einer besondern Erhabenheit der Stimmung bestehenden Nachwirkung. Die in kombinirten, rationalen Zahlenverhältnissen erfolgenden Schwingungen der Töne versetzen nämlich die Gehirnfibern selbst in gleiche Schwingungen. Hingegen wird aus der dem Hören ganz entgegengesetzten aktiven Natur des Sehns begreiflich, warum es kein Analogen der Musik für das Auge geben kann und das Farbenklavier ein lächerlicher Mißgriff war. Eben auch wegen der aktiven Natur des Gesichtssinnes ist er bei den verfolgenden Thieren, also den Raubthieren, ausgezeichnet scharf, wie umgekehrt der passive Sinn, das Gehör, bei den verfolgten, den fliehenden, furchtsamen Thieren; damit es von selbst ihnen den herbeieilenden, oder heranschleichenden Verfolger zeitig verrathe.
Wie wir im Gesicht den Sinn des Verstandes, im Gehör den der Vernunft erkannt haben, so könnte man den Geruch den Sinn des Gedächtnisses nennen; weil er unmittelbarer, als irgend etwas Anderes, den specifischen Eindruck eines Vorganges, oder einer Umgebung, selbst aus der fernsten Vergangenheit, uns zurückruft.
Kapitel 4. Von der Erkenntniß a priori
Aus der Thatsache, daß wir die Gesetze der Verhältnisse im Raume, ohne hiezu der Erfahrung zu bedürfen, aus uns selbst angeben und bestimmen können, folgerte Plato (Meno, p. 353. Bip.) , daß alles Lernen bloß ein Erinnern sei; Kant hingegen, daß der Raum subjektiv bedingt und bloß eine Form des Erkenntnißvermögens sei. Wie hoch steht in dieser Hinsicht Kant über Plato !
Cogito, ergo sum ist ein analytisches Urtheil: Parmenides hat es sogar für ein identisches gehalten: to gar auto noein esti te kai einai , (nam intelligere et esse idem est, Clem. Alex. Strom. VI, 2, § 23) . Als ein solches aber, oder auch nur als analytisches, kann es keine besondere Weisheit enthalten; wie auch nicht, wenn man, noch gründlicher, es, als einen Schluß, aus dem Obersatz non-entis nulla sunt praedicata ableiten wollte. Eigentlich aber hat Cartesius damit die große Wahrheit ausdrücken wollen, daß nur dem Selbstbewußtseyn, also dem Subjektiven, unmittelbare Gewißheit zukommt; dem Objektiven, also allem Andern, hingegen, als dem durch jenes erst
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