Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
verschiedenen Geschwindigkeit, welche die vom Centro ungleich entfernten Punkte einer drehenden Scheibe haben. Aber das richtigste, ja, wie unser drittes Buch lehrt, das natürliche Bild jener Abstufung liefert die Tonleiter, in ihrem ganzen Umfang, vom tiefsten noch hörbaren bis zum höchsten Ton. Nun aber ist es der Grad des Bewußtseyns, welcher den Grad des Daseyns eines Wesens bestimmt. Denn alles unmittelbare Daseyn ist ein subjektives: das objektive Daseyn ist im Bewußtseyn eines Andern vorhanden, also nur für dieses, mithin ganz mittelbar. Durch den Grad des Bewußtseyns sind die Wesen so verschieden, wie sie durch den Willen gleich sind, sofern dieser das Gemeinsame in ihnen allen ist.
Was wir aber jetzt zwischen Pflanze und Thier, und dann zwischen den verschiedenen Thiergeschlechtern betrachtet haben, findet auch noch zwischen Mensch und Mensch Statt. Auch hier nämlich begründet das Sekundäre, der Intellekt, mittelst der von ihm abhängigen Klarheit des Bewußtseyns und Deutlichkeit des Erkennens, einen fundamentalen und unabsehbar großen Unterschied in der ganzen Weise des Daseyns, und dadurch im Grade desselben. Je höher gesteigert das Bewußtseyn ist, desto deutlicher und zusammenhängender die Gedanken, desto klarer die Anschauungen, desto inniger die Empfindungen. Dadurch gewinnt Alles mehr Tiefe: die Rührung, die Wehmuth, die Freude und der Schmerz. Die gewöhnlichen Flachköpfe sind nicht ein Mal rechter Freude fähig: sie leben in Dumpfheit dahin. Während dem Einen sein Bewußtseyn nur das eigene Daseyn, nebst den Motiven, welche zum Zweck der Erhaltung und Erheiterung desselben apprehendirt werden müssen, in einer dürftigen Auffassung der Außenwelt vergegenwärtigt, ist es dem Andern eine camera obscura , in welcher sich der Makrokosmos darstellt:
»Er fühlet, daß er eine kleine Welt
In seinem Gehirne brütend hält,
Daß die fängt an zu wirken und zu leben,
Daß er sie gerne möchte von sich geben.«
Die Verschiedenheit der ganzen Art des Daseyns, welche die Extreme der Gradation der intellektuellen Fähigkeiten zwischen Mensch und Mensch feststellen, ist so groß, daß die zwischen König und Tagelöhner dagegen gering erscheint. Und auch hier ist, wie bei den Thiergeschlechtern, ein Zusammenhang zwischen der Vehemenz des Willens und der Steigerung des Intellekts nachweisbar. Genie ist durch ein leidenschaftliches Temperament bedingt, und ein phlegmatisches Genie ist undenkbar; es scheint, daß ein überaus heftiger, also gewaltig verlangender Wille daseyn mußte, wenn die Natur einen abnorm erhöhten Intellekt, als jenem angemessen, dazugeben sollte; während die bloß physische Rechenschaft hierüber auf die größere Energie, mit der die Arterien des Kopfes das Gehirn bewegen und die Turgescenz desselben vermehren, hinweist. Freilich aber ist die Quantität, Qualität und Form des Gehirns selbst die andere und ungleich seltenere Bedingung des Genies. Andererseits sind die Phlegmatici in der Regel von sehr mittelmäßigen Geisteskräften: und eben so stehn die nördlichen, kaltblütigen und phlegmatischen Völker, im Allgemeinen, den südlichen, lebhaften und leidenschaftlichen an Geist merklich nach; obgleich, wie Bako 31 überaus treffend bemerkt hat, wenn ein Mal ein Nordländer von der Natur hochbegabt wird, dies alsdann einen Grad erreichen kann, bis zu welchem kein Südländer je gelangt. Demnach ist es so verkehrt als gewöhnlich, zum Maaßstab der Vergleichung der Geisteskräfte verschiedener Nationen die großen Geister derselben zu nehmen: denn das heißt, die Regel durch die Ausnahmen begründen wollen. Vielmehr ist es die große Pluralität jeder Nation, die man zu betrachten hat: denn eine Schwalbe macht keinen Sommer. – Noch ist hier zu bemerken, daß eben die Leidenschaftlichkeit, welche Bedingung des Genies ist, mit seiner lebhaften Auffassung der Dinge verbunden, im praktischen Leben, wo der Wille ins Spiel kommt, zumal bei plötzlichen Ereignissen, eine so große Aufregung der Affekte herbeiführt, daß sie den Intellekt stört und verwirrt; während der Phlegmatikus auch dann noch den vollen Gebrauch seiner, wenn gleich viel geringern, Geisteskräfte behält und damit alsdann viel mehr leistet, als das größte Genie vermag. Sonach begünstigt ein leidenschaftliches Temperament die ursprüngliche Beschaffenheit des Intellekts, ein phlegmatisches aber dessen Gebrauch. Deshalb ist das eigentliche Genie durchaus nur zu theoretischen Leistungen, als zu
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