Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
welchen es seine Zeit wählen und abwarten kann; welches gerade die seyn wird, wo der Wille gänzlich ruht und keine Welle den reinen Spiegel der Weltanschauung trübt: hingegen ist zum praktischen Leben das Genie ungeschickt und unbrauchbar, daher auch meistens unglücklich. In diesem Sinn ist Goethes Tasso gedichtet. Wie nun das eigentliche Genie auf der absoluten Stärke des Intellekts beruht, welche durch eine ihr entsprechende, übermäßige Heftigkeit des Gemüths erkauft werden muß; so beruht hingegen die große Ueberlegenheit im praktischen Leben, welche Feldherren und Staatsmänner macht, auf der relativen Stärke des Intellekts, nämlich auf dem höchsten Grad desselben, der ohne eine zu große Erregbarkeit der Affekte, nebst zu großer Heftigkeit des Charakters erreicht werden kann und daher auch im Sturm noch Stand hält. Viel Festigkeit des Willens und Unerschütterlichkeit des Gemüths, bei einem tüchtigen und feinen Verstande, reicht hier aus; und was darüber hinausgeht, wirkt schädlich: denn die zu große Entwickelung der Intelligenz steht der Festigkeit des Charakters und Entschlossenheit des Willens geradezu im Wege. Deshalb ist auch diese Art der Eminenz nicht so abnorm und ist hundert Mal weniger selten, als jene andere: demgemäß sehn wir große Feldherren und große Minister zu allen Zeiten, sobald nur die äußern Umstände ihrer Wirksamkeit günstig sind, auftreten. Große Dichter und Philosophen hingegen lassen Jahrhunderte auf sich warten: doch kann die Menschheit auch an diesem seltenen Erscheinen derselben sich genügen lassen; da ihre Werke bleiben und nicht bloß für die Gegenwart dasind, wie die Leistungen jener Andern. – Dem oben erwähnten Gesetze der Sparsamkeit der Natur ist es auch völlig gemäß, daß sie die geistige Eminenz überhaupt höchst Wenigen, und das Genie nur als die seltenste aller Ausnahmen ertheilt, den großen Haufen des Menschengeschlechts aber mit nicht mehr Geisteskräften ausstattet, als die Erhaltung des Einzelnen und der Gattung erfordert. Denn die großen und, durch ihre Befriedigung selbst, sich beständig vermehrenden Bedürfnisse des Menschengeschlechts machen es nothwendig, daß der bei weitem größte Teil desselben sein Leben mit grob körperlichen und ganz mechanischen Arbeiten zubringt; wozu sollte nun diesem ein lebhafter Geist, eine glühende Phantasie, ein subtiler Verstand, ein tief eindringender Scharfsinn nutzen? Dergleichen würde die Leute nur untauglich und unglücklich machen. Daher also ist die Natur mit dem kostbarsten aller ihrer Erzeugnisse am wenigsten verschwenderisch umgegangen. Von diesem Gesichtspunkt aus sollte man auch, um nicht unbillig zu urtheilen, seine Erwartungen von den geistigen Leistungen der Menschen überhaupt feststellen und z.B. auch Gelehrte, da in der Regel bloß äußere Veranlassungen sie zu solchen gemacht haben, zunächst betrachten als Männer, welche die Natur eigentlich zum Ackerbau bestimmt hatte: ja, selbst Philosophieprofessoren sollte man nach diesem Maaßstabe abschätzen und wird dann ihre Leistungen allen billigen Erwartungen entsprechend finden. – Beachtenswerth ist es, daß im Süden, wo die Noth des Lebens weniger schwer auf dem Menschengeschlecht lastet und mehr Muße gestattet, auch die geistigen Fähigkeiten, selbst der Menge, sogleich regsamer und feiner werden. – Physiologisch merkwürdig ist, daß das Uebergewicht der Masse des Gehirns über die des Rückenmarks und der Nerven, welches, nach Sömmerings scharfsinniger Entdeckung, den wahren nächsten Maaßstab für den Grad der Intelligenz, sowohl in den Thiergeschlechtern, als in den menschlichen Individuen, abgiebt, zugleich die unmittelbare Beweglichkeit, die Agilität der Glieder vermehrt; weil, durch die große Ungleichheit des Verhältnisses, die Abhängigkeit aller motorischen Nerven vom Gehirn entschiedener wird; wozu wohl noch kommt, daß an der qualitativen Vollkommenheit des großen Gehirns auch die des kleinen, dieses nächsten Lenkers der Bewegungen, Theil nimmt; durch Beides also alle willkürlichen Bewegungen größere Leichtigkeit, Schnelle und Behändigkeit gewinnen, und durch die Koncentration des Ausgangspunktes aller Aktivität Das entsteht, was Lichtenberg an Garrick lobt: »daß er allgegenwärtig in den Muskeln seines Körpers schien«. Daher deutet Schwerfälligkeit im Gange des Körpers auf Schwerfälligkeit im Gange der Gedanken und wird, so gut wie Schlaffheit der Gesichtszüge und Stumpfheit des
Weitere Kostenlose Bücher