Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
ein Bild die Zeit, als Saturn, mit einer Scheere dem Amor die Flügel beschneidend: wenn das besagen soll, daß, wann wir altern, der Unbestand in der Liebe sich schon giebt; so wird es hiemit wohl seine Richtigkeit haben. –
Meine Lösung des Problems, warum der Laokoon nicht schreit, zu bekräftigen, diene noch Folgendes. Von der verfehlten Wirkung der Darstellung des Schreiens durch die Werke der bildenden, wesentlich stummen Künste, kann man sich faktisch überzeugen an einem auf der Kunstakademie zu Bologna befindlichen Bethlehemitischen Kindermord von Guido Reni, auf welchem dieser große Künstler den Mißgriff begangen hat, sechs schreiende Mundaufreißer zu malen. – Wer es noch deutlicher haben will, denke sich eine pantomimische Darstellung auf der Bühne, und in irgend einer Scene derselben einen dringenden Anlaß zum Schreien einer der Personen: wollte nun der diese darstellende Tänzer das Geschrei dadurch ausdrücken, daß er eine Weile mit weit aufgesperrtem Munde dastände; so würde das laute Gelächter des ganzen Hauses die Abgeschmacktheit der Sache bezeugen. – Da nun demnach aus Gründen, welche nicht im darzustellenden Gegenstande, sondern im Wesen der darstellenden Kunst liegen, das Schreien des Laokoon unterbleiben mußte; so entstand hieraus dem Künstler die Aufgabe, eben dieses Nicht-Schreien zu motiviren, um es uns plausibel zu machen, daß ein Mensch in solcher Lage nicht schreie. Diese Aufgabe hat er dadurch gelöst, daß er den Schlangenbiß nicht als schon erfolgt, auch nicht als noch drohend, sondern als gerade jetzt und zwar in die Seite geschehend darstellte: denn dadurch wird der Unterleib eingezogen, das Schreien daher unmöglich gemacht. Diesen nächsten, eigentlich aber nur sekundären und untergeordneten Grund der Sache hat Goethe richtig herausgefunden und ihn dargelegt am Ende des elften Buchs seiner Selbstbiographie, wie auch im Aufsatz über den Laokoon im ersten Heft der Propyläen; aber der entferntere, primäre, jenen bedingende Grund ist der von mir dargelegte. Ich kann die Bemerkung nicht unterdrücken, daß ich hier zu Goethe wieder im selben Verhältniß stehe, wie hinsichtlich der Theorie der Farbe. – In der Sammlung des Herzogs von Aremberg zu Brüssel befindet sich ein antiker Kopf des Laokoon, welcher später aufgefunden worden. Der Kopf in der weltberühmten Gruppe ist aber kein restaurirter, wie auch aus Goethes specieller Tafel aller Restaurationen dieser Gruppe, welche sich am Ende des ersten Bandes der Propyläen befindet, hervorgeht und zudem dadurch bestätigt wird, daß der später gefundene Kopf dem der Gruppe höchst ähnlich ist. Wir müssen also annehmen, daß noch eine andere antike Repetition der Gruppe existirt hat, welcher der Arembergische Kopf angehörte. Derselbe übertrifft, meiner Meinung nach, sowohl an Schönheit als an Ausdruck den der Gruppe: den Mund hat er bedeutend weiter offen, als dieser, jedoch nicht bis zum eigentlichen Schreien.
Kapitel 37.Zur Aesthetik der Dichtkunst
Als die einfachste und richtigste Definition der Poesie möchte ich diese aufstellen, daß sie die Kunst ist, durch Worte die Einbildungskraft ins Spiel zu versetzen. Wie sie dies zu Wege bringt, habe ich im ersten Bande, § 51, angegeben. Eine specielle Bestätigung des dort Gesagten giebt folgende Stelle aus einem seitdem veröffentlichten Briefe Wielands an Merck : »Ich habe drittehalb Tage über eine einzige Strophe zugebracht, wo im Grunde die Sache auf einem einzigen Worte, das ich brauchte und nicht finden konnte, beruhte. Ich drehte und wandte das Ding und mein Gehirn nach allen Seiten; weil ich natürlicherweise, wo es um ein Gemälde zu thun ist, gern die nämliche bestimmte Vision, welche vor meiner Stirn schwebte, auch vor die Stirn meiner Leser bringen möchte, und dazu oft, ut nosti , von einem einzigen Zuge, oder Drucker, oder Reflex, Alles abhängt.« (Briefe an Merck, herausgegeben von Wagner, 1835, S. 193.) – Dadurch, daß die Phantasie des Lesers der Stoff ist, in welchem die Dichtkunst ihre Bilder darstellt, hat diese den Vortheil, daß die nähere Ausführung und die feineren Züge in der Phantasie eines Jeden so ausfallen, wie es seiner Individualität, seiner Erkenntnißsphäre und seiner Laune gerade am angemessensten ist und ihn daher am lebhaftesten anregt; statt daß die bildenden Künste sich nicht so anbequemen können, sondern hier ein Bild, eine Gestalt Allen genügen soll: diese aber wird doch immer, in Etwas, das
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