Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
gewissen Anticipation derselben beruht und daher zum Theil a priori begründet ist, finde ich noch hervorzuheben, daß diese Anticipation dennoch der Erfahrung bedarf, um durch sie angeregt zu werden; analog dem Instinkt der Thiere, welcher, obwohl das Handeln a priori leitend, dennoch in den Einzelheiten desselben der Bestimmung durch Motive bedarf. Die Erfahrung und Wirklichkeit nämlich hält dem Intellekt des Künstlers menschliche Gestalten vor, welche, im einen oder andern Theil, der Natur mehr oder minder gelungen sind, ihn gleichsam um sein Urtheil darüber befragend, und ruft so, nach Sokratischer Methode, aus jener dunkeln Anticipation die deutliche und bestimmte Erkenntniß des Ideals hervor. Dieserhalb leistete es den Griechischen Bildhauern allerdings großen Vorschub, daß Klima und Sitte des Landes ihnen den ganzen Tag Gelegenheit gaben, halb nackte Gestalten, und in den Gymnasien auch ganz nackte zu sehn. Dabei forderte jedes Glied ihren plastischen Sinn auf zur Beurtheilung und zur Vergleichung desselben mit dem Ideal, welches unentwickelt in ihrem Bewußtseyn lag. So übten sie beständig ihr Urtheil an allen Formen und Gliedern, bis zu den feinsten Nüancen derselben herab; wodurch denn allmälig ihre ursprünglich nur dumpfe Anticipation des Ideals menschlicher Schönheit zu solcher Deutlichkeit des Bewußtseyns erhoben werden konnte, daß sie fähig wurden, dasselbe im Kunstwerk zu objektiviren. – Auf ganz analoge Weise ist dem Dichter, zur Darstellung der Charaktere, eigene Erfahrung nützlich und nöthig. Denn obgleich er nicht nach der Erfahrung und empirischen Notizen arbeitet, sondern nach dem klaren Bewußtseyn des Wesens der Menschheit, wie er solches in seinem eigenen Innern findet; so dient doch diesem Bewußtseyn die Erfahrung zum Schema, giebt ihm Anregung und Uebung. Sonach erhält seine Erkenntniß der menschlichen Natur und ihrer Verschiedenheiten, obwohl sie in der Hauptsache a priori und anticipirend verfährt, doch erst durch die Erfahrung Leben, Bestimmtheit und Umfang. – Dem so bewunderungswürdigen Schönheitssinn der Griechen aber, welcher sie allein, unter allen Völkern der Erde, befähigte, den wahren Normaltypus der menschlichen Gestalt herauszufinden und demnach die Musterbilder der Schönheit und Grazie für alle Zeiten zur Nachahmung aufzustellen, können wir, auf unser voriges Buch und Kapitel 44 im folgenden uns stützend, noch tiefer auf den Grund gehn, und sagen: Das Selbe, was, wenn es vom Willen unzertrennt bleibt, Geschlechtstrieb mit fein sichtender Auswahl, d.i. Geschlechtsliebe (die bei den Griechen bekanntlich großen Verirrungen unterworfen war), giebt; eben Dieses wird, wenn es, durch das Vorhandenseyn eines abnorm überwiegenden Intellekts, sich vom Willen ablöst und doch thätig bleibt, zum objektiven Schönheitssinn für menschliche Gestalt, welcher nun zunächst sich zeigt als urtheilender Kunstsinn, sich aber steigern kann, bis zur Auffindung und Darstellung der Norm aller Theile und Proportionen; wie dies der Fall war im Phidias, Praxiteles, Skopas u.s.w. – Alsdann geht in Erfüllung, was Goethe den Künstler sagen läßt:
Daß ich mit Göttersinn
Und Menschenhand
Vermöge zu bilden,
Was bei meinem Weib'
Ich animalisch kann und muß.
Und auch hier abermals analog, wird im Dichter eben Das, was, wenn es vom Willen unzertrennt bliebe, bloße Weltklugheit gäbe, wenn es, durch das abnorme Ueberwiegen des Intellekts, sich vom Willen sondert, zur Fähigkeit objektiver, dramatischer Darstellung . –
Die moderne Skulptur ist, was immer sie auch leisten mag, doch der modernen lateinischen Poesie analog und, wie diese, ein Kind der Nachahmung, aus Reminiscenzen entsprungen. Läßt sie sich beigehn, originell seyn zu wollen, so geräth sie alsbald auf Abwege, namentlich auf den schlimmen, nach der vorgefundenen Natur, statt nach den Proportionen der Alten zu formen. Canova, Thorwaldsen u.a.m. sind dem Johannes Secundus und Owenus zu vergleichen. Mit der Architektur verhält es sich eben so: allein da ist es in der Kunst selbst gegründet, deren rein ästhetischer Theil von geringem Umfange ist und von den Alten bereits erschöpft wurde; daher der moderne Baumeister nur in der weisen Anwendung desselben sich hervorthun kann; und soll er wissen, daß er stets so weit vom guten Geschmack sich entfernt, als er vom Stil und Vorbild der Griechen abgeht. –
Die Kunst des Malers , bloß betrachtet sofern sie den Schein der Wirklichkeit
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