Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
der alten wie der neuen Zeit, des Orients wie des Occidents, erkennen, und, trotz aller Verschiedenheit der speciellen Umstände, des Kostümes und der Sitten, überall die selbe Menschheit erblicken. Dies Identische und unter allem Wechsel Beharrende besteht in den Grundeigenschaften des menschlichen Herzens und Kopfes, – vielen schlechten, wenigen guten. Die Devise der Geschichte überhaupt müßte lauten: Eadem, sed aliter . Hat Einer den Herodot gelesen, so hat er, in philosophischer Absicht, schon genug Geschichte studirt. Denn da steht schon Alles, was die folgende Weltgeschichte ausmacht: das Treiben, Thun, Leiden und Schicksal des Menschengeschlechts, wie es aus den besagten Eigenschaften und dem physischen Erdenloose hervorgeht. –
Wenn wir im Bisherigen erkannt haben, daß die Geschichte, als Mittel zur Erkenntniß des Wesens der Menschheit betrachtet, der Dichtkunst nachsteht; sodann, daß sie nicht im eigentlichen Sinne eine Wissenschaft ist; endlich, daß das Bestreben, sie als ein Ganzes mit Anfang, Mittel und Ende, nebst sinnvollem Zusammenhang, zu konstruiren, ein eiteles, auf Mißverstand beruhendes ist; so würde es scheinen, als wollten wir ihr allen Werth absprechen, wenn wir nicht nachwiesen, worin der ihrige besteht. Wirklich aber bleibt ihr, nach dieser Besiegung von der Kunst und Abweisung von der Wissenschaft, ein von Beiden verschiedenes, ganz eigenthümliches Gebiet, auf welchem sie höchst ehrenvoll dasteht.
Was die Vernunft dem Individuo, das ist die Geschichte dem menschlichen Geschlechte . Vermöge der Vernunft nämlich ist der Mensch nicht, wie das Thier, auf die enge, anschauliche Gegenwart beschränkt; sondern erkennt auch die ungleich ausgedehntere Vergangenheit, mit der sie verknüpft und aus der sie hervorgegangen ist: hiedurch aber erst hat er ein eigentliches Verständniß der Gegenwart selbst, und kann sogar auf die Zukunft Schlüsse machen. Hingegen das Thier, dessen reflexionslose Erkenntniß auf die Anschauung und deshalb auf die Gegenwart beschränkt ist, wandelt, auch wenn gezähmt, unkundig, dumpf, einfältig, hülflos und abhängig zwischen den Menschen umher. – Dem nun analog ist ein Volk, das seine eigene Geschichte nicht kennt, auf die Gegenwart der jetzt lebenden Generation beschränkt: daher versteht es sich selbst und seine eigene Gegenwart nicht; weil es sie nicht auf eine Vergangenheit zu beziehn und aus dieser zu erklären vermag; noch weniger kann es die Zukunft anticipiren. Erst durch die Geschichte wird ein Volk sich seiner selbst vollständig bewußt. Demnach ist die Geschichte als das vernünftige Selbstbewußtseyn des menschlichen Geschlechtes anzusehn, und ist diesem Das, was dem Einzelnen das durch die Vernunft bedingte, besonnene und zusammenhängende Bewußtseyn ist, durch dessen Ermangelung das Thier in der engen, anschaulichen Gegenwart befangen bleibt. Daher ist jede Lücke in der Geschichte wie eine Lücke im erinnernden SelbstBewußtseyn eines Menschen; und vor einem Denkmal des Uralterthums, welches seine eigene Kunde überlebt hat, wie z.B. die Pyramiden, Tempel und Paläste in Yukatan, stehn wir so besinnungslos und einfältig, wie das Thier vor der menschlichen Handlung, in die es dienend verflochten ist, oder wie ein Mensch vor seiner eigenen alten Zifferschrift, deren Schlüssel er vergessen hat, ja, wie ein Nachtwandler, der was er im Schlafe gemacht hat, am Morgen vorfindet. In diesem Sinne also ist die Geschichte anzusehn als die Vernunft, oder das besonnene Bewußtseyn des menschlichen Geschlechts, und vertritt die Stelle eines dem ganzen Geschlechte unmittelbar gemeinsamen Selbstbewußtseyns, so daß erst vermöge ihrer dasselbe wirklich zu einem Ganzen, zu einer Menschheit, wird. Dies ist der wahre Werth der Geschichte; und dem gemäß beruht das so allgemeine und überwiegende Interesse an ihr hauptsächlich darauf, daß sie eine persönliche Angelegenheit des Menschengeschlechts ist. – Was nun für die Vernunft der Individuen, als unumgängliche Bedingung des Gebrauchs derselben, die Sprache ist, das ist für die hier nachgewiesene Vernunft des ganzen Geschlechts die Schrift : denn erst mit dieser fängt ihre wirkliche Existenz an; wie die der individuellen Vernunft erst mit der Sprache. Die Schrift nämlich dient, das durch den Tod unaufhörlich unterbrochene und demnach zerstückelte Bewußtseyn des Menschengeschlechts wieder zur Einheit herzustellen; so daß der Gedanke, welcher im Ahnherrn aufgestiegen, vom Urenkel zu
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