Die Welt als Wille und Vorstellung (German Edition)
Vorhandenen, aber freilich zum Nachtheil der Kommenden, gesorgt; und jenes bleibt doch problematisch. Der Mann, welcher, bei seiner Verheirathung, auf Geld, statt auf Befriedigung seiner Neigung sieht, lebt mehr im Individuo, als in der Gattung; welches der Wahrheit gerade entgegengesetzt ist, daher es sich als naturwidrig darstellt und eine gewisse Verachtung erregt. Ein Mädchen, welches, dem Rath seiner Eltern entgegen, den Antrag eines reichen und nicht alten Mannes ausschlägt, um, mit Hintansetzung aller Konvenienzrücksichten, allein nach seinem instinktiven Hange zu wählen, bringt sein individuelles Wohl dem der Gattung zum Opfer. Aber eben deswegen kann man ihm einen gewissen Beifall nicht versagen: denn es hat das Wichtigere vorgezogen und im Sinne der Natur (näher, der Gattung) gehandelt; während die Eltern im Sinne des individuellen Egoismus riechen. – Dem Allen zufolge gewinnt es den Anschein, als müßte, bei Abschließung einer Ehe, entweder das Individuum oder das Interesse der Gattung zu kurz kommen. Meistens steht es auch so: denn daß Konvenienz und leidenschaftliche Liebe Hand in Hand giengen, ist der seltenste Glücksfall. Die physisch, moralisch, oder intellektuell elende Beschaffenheit der meisten Menschen mag zum Theil ihren Grund darin haben, daß die Ehen gewöhnlich nicht aus reiner Wahl und Neigung, sondern aus allerlei äußern Rücksichten und nach zufälligen Umständen geschlossen werden. Wird jedoch neben der Konvenienz auch die Neigung in gewissem Grade berücksichtigt; so ist dies gleichsam eine Abfindung mit dem Genius der Gattung. Glückliche Ehen sind bekanntlich selten; eben weil es im Wesen der Ehe liegt, daß ihr Hauptzweck: nicht die gegenwärtige, sondern die kommende Generation ist. Indessen sei zum Tröste zarter und liebender Gemüther noch hinzugefügt, daß bisweilen der leidenschaftlichen Geschlechtsliebe sich ein Gefühl ganz andern Ursprungs zugesellt, nämlich wirkliche, auf Uebereinstimmung der Gesinnung gegründete Freundschaft, welche jedoch meistens erst dann hervortritt, wann die eigentliche Geschlechtsliebe in der Befriedigung erloschen ist. Jene wird alsdann meistens daraus entspringen, daß die einander ergänzenden und entsprechenden physischen, moralischen und intellektuellen Eigenschaften beider Individuen, aus welchen, in Rücksicht auf das zu Erzeugende, die Geschlechtsliebe entstand, eben auch in Beziehung auf die Individuen selbst, als entgegengesetzte Temperamentseigenschaften und geistige Vorzüge sich zu einander ergänzend verhalten und dadurch eine Harmonie der Gemüther begründen. –
Die ganze hier abgehandelte Metaphysik der Liebe steht mit meiner Metaphysik überhaupt in genauer Verbindung, und das Licht, welches sie auf diese zurückwirft, läßt sich in Folgendem resumiren.
Es hat sich ergeben, daß die sorgfältige und durch unzählige Stufen bis zur leidenschaftlichen Liebe steigende Auswahl bei der Befriedigung des Geschlechtstriebes auf dem höchst ernsten Antheil beruht, welchen der Mensch an der speciellen persönlichen Beschaffenheit des kommenden Geschlechts nimmt. Dieser überaus merkwürdige Antheil nun bestätigt zwei in den vorhergegangenen Kapiteln dargethane Wahrheiten: 1) Die Unzerstörbarkeit des Wesens an sich des Menschen, als welches in jenem kommenden Geschlechte fortlebt. Denn jener so lebhafte und eifrige, nicht aus Reflexion und Vorsatz, sondern aus dem Innersten Zuge und Triebe unsers Wesens entspringende Antheil könnte nicht so unvertilgbar vorhanden seyn und so große Macht über den Menschen ausüben, wenn dieser absolut vergänglich wäre und ein von ihm wirklich und durchaus verschiedenes Geschlecht bloß der Zeit nach auf ihn folgte. 2) Daß sein Wesen an sich mehr in der Gattung als im Individuo liegt. Denn jenes Interesse an der speciellen Beschaffenheit der Gattung, welches die Wurzel aller Liebeshändel, von der flüchtigsten Neigung bis zur ernstlichsten Leidenschaft, ausmacht, ist Jedem eigentlich die höchste Angelegenheit, nämlich die, deren Gelingen oder Mißlingen ihn am empfindlichsten berührt; daher sie vorzugsweise die Herzensangelegenheit genannt wird: auch wird diesem Interesse, wann es sich stark und entschieden ausgesprochen hat, jedes bloß die eigene Person betreffende nachgesetzt und nöthigenfalls aufgeopfert. Dadurch also bezeugt der Mensch, daß ihm die Gattung näher liegt, als das Individuum, und er unmittelbarer in Jener, als in Diesem lebt. – Warum demnach hängt der
Weitere Kostenlose Bücher