Die Welt auf dem Kopf
einen Verbrecher liebe. Ich kann es nicht ertragen, wenn sie so ein Gesicht macht. Anna ist wirklich die Letzte, die mir Ratschläge in Liebesdingen erteilen sollte.
Aber ich werde abwarten. Johnson junior hilft mir ohnehin schon so viel. Ich habe immer das Gefühl, dass alle merken müssen, wie dumm und unwissend ich bin, und damit sie es nicht merken, bleibe ich lieber für mich und nehme keine Einladungen an. Wenn man es genau nimmt, habe ich eigentlich keine Freunde. Und meine Versuche, Freundschaften zu schließen, misslingen mir in schöner Regelmäßigkeit. Wie zum Beispiel vor einiger Zeit, als ich vor mir auf dem Gehweg eine Kommilitonin aus meinem Seminar erblickte, die mir sehr sympathisch war und mir mit ihren intelligenten Kommentaren im Seminar aufgefallen war, und ich meine Schritte beschleunigte. Ich schloss zu ihr auf und sagte: »Ich glaube, wir haben denselben Weg.«
»Nein, ich biege hier ab. Dann bis morgen. Entschuldige, aber ich hab es eilig!«
Woher wusste sie eigentlich, dass ich nicht auch an derselben Straßenecke abbiegen musste? Bestimmt wollte sie mich einfach nur loswerden. Und das wundert mich gar nicht, schließlich melde ich mich in den Seminaren nie zu Wort. Ich bin eine Miss Nobody. Und aus Angst, entdeckt zu werden, melde ich mich lieber erst gar nicht.
Johnson junior hat genau erkannt, wer ich bin und dass ich nichts kann, und mag mich trotzdem. Vielleicht liebt er mich sogar. Warum sollte er sich sonst für eine Stümperin wie mich interessieren?
Ich bin ihm auch gar nicht böse, wenn er sagt, ich soll Schriftstellerin werden, weil sich alle, die sonst nichts können, aufs Schreiben verlegen. Das ist für mich keine Beleidigung, da ich weiß, dass er Schriftsteller im Großen und Ganzen schätzt und selbst die ganze Zeit liest und sich mit seinen Studien befasst; außerdem hat er an der Harvard University in Cambridge, Massachusetts, Literatur studiert.
Natürlich haben mich auch Anna, Natascha und Giovannino gern, vielleicht sogar Johnson senior, aber nur, und das soll keine Kritik sein, weil sie nicht begreifen, wer ich wirklich bin. Allein wenn sie wüssten, wie ruhmsüchtig ich in meinen geheimsten Träumen bin. Nicht einmal meine Eltern ahnten es, weder mein Vater, bevor er starb, noch meine Mutter, bevor sie verrückt wurde. Sie hatten nicht den blassesten Schimmer, wer ihre Tochter wirklich war.
Johnson junior spricht nie von der Mutter seines Kindes, genauso wenig wie von der eigenen.
Nur einmal sagte er über seine Mutter: »Sie kennt nur ihre eigene kleine Welt, und in der läuft sie vor und zurück und nach links und nach rechts, wie in einer Gefängniszelle, ohne etwas von der Welt da draußen mitzubekommen. Aber sie ist weder böse noch dumm. Du wirst es ja sehen, wenn sie zurückkommt. Denn sie kommt bestimmt zurück.«
»Das will ich nicht hoffen«, sagte ich mit einem Anflug von Verzweiflung. »Nicht dass sich jemand von den Beteiligten umbringt. Wenn nicht deine Mutter, dann Anna.«
»Ach was! Wegen Papa? Wegen einem, der sich eigentlich einliefern lassen müsste?«
»Wo denn?«
»Na, wo wohl?«
»Glaubst du, dass er verrückt ist?«
»Nein. Aber er müsste sich trotzdem einliefern lassen.«
»Sagst du das, weil du ihn nicht magst?«
»Und ob ich ihn mag. Ich könnte mir keinen besseren Vater vorstellen. Er ist ein wahrer Künstler. Ein reiner, unverdorbener. Ihm geht es nur um seine Musik, Geld und Ruhm sind ihm gleich. Hauptsache, er kann Geige spielen. Mein Vater ist wahrlich ein herausragendes Exemplar der Gattung Mensch, auch wenn er die Angewohnheit besitzt, sich beim Auftragen des Essens einen Zipfel der Tischdecke in den Kragen zu stopfen und ihn wieder zu entfernen, bevor er zu essen beginnt. Und andere komische Dinge tut. Wie zumBeispiel, als er einmal an einem BMW mit offenem Kofferraum vorbeikam, der randvoll mit herrlichem Obst war, und er den eleganten Herrn daneben fragte, wie viel er für das Obst wolle, er würde es ihm gern abkaufen.«
»Und was hat ihm dieser feine Herr geantwortet?«
»Er soll doch bitte den Wagen und ihn selbst anschauen und ihm dann sagen, ob er ihn immer noch für einen fahrenden Obsthändler halte! Es gibt noch eine ähnliche Geschichte dieser Art. Einmal, damals wohnten wir noch in Paris, wollte er einen Schreiner aufsuchen und muss sich wohl in der Adresse geirrt haben, was auch nicht weiter verwunderlich ist, da seine Taschen immer voller zusammengeknüllter Notizzettel sind und er nie den richtigen
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