Die Welt auf dem Kopf
findet. Jedenfalls klingelte er an der Tür der amerikanischen Botschaft, einem Prachtbau mit Marmortreppen und bewachtem Eingang, und fragte, ob der Schreiner Soundso da sei.«
»Und was hat das Wachpersonal gesagt?«
»Sie haben ihn gefragt, ob er tatsächlich glaube, dass sich hier eine Schreinerei befinde, es handle sich nämlich um die amerikanische Botschaft! Mein Vater ist wirklich nicht von dieser Welt, aber vielleicht ist er gerade deswegen ein herausragendes Exemplar der Gattung Mensch. Das beste, das ich kenne.«
»Und deine Frau?«, fragte ich ihn. »Wie ist Mrs. Johnson junior?«
»Es gibt keine Mrs. Johnson junior.«
»Seid ihr nicht verheiratet?«
»Wir sind gar nichts.«
Er erklärte mir, dass Giovannino seine Mutter nicht kennt; Johnson junior hat ihm nur gesagt, dass er, wenn er groß genug sei, ihm das Geheimnis seiner Geburt offenbaren werde.
»Ist es ein hässliches Geheimnis?«, fragte ihn das Kind.
»Nein. An deiner Geburt gibt es überhaupt nichts Hässliches.«
Was immer es auch für ein Geheimnis sein mag, der Junge ist sich sicher, dass sein Vater alles richtig gemacht hat.
Manchmal kommt mir Giovannino vor, als käme er von weit her. Vielleicht weil er einen so durchdringend ansehen kann. Oder weil er einem den Eindruck vermittelt, als könnte er ebenso gut auf einen verzichten. Nie veranstaltet er Geschrei oder Lärm wie andere Kinder, wenn sie wütend sind oder unbedingt etwas haben wollen. Stattdessen passt er sich jeder Situation an. So nimmt er es klaglos hin, dass es bei seinem Großvater nur vegetarische Gerichte gibt. Zumal er davor einen ganz anderen Speiseplan gewohnt war, zum Beispiel amerikanische Steaks, französische Fleischgerichte wie Entrecôtes oder Pâté de foie und italienische wie Cotolette alla Milanese . Aber Mr. Johnson erzählte ihm, wie man mit den Gänsen verfährt, um aus ihrer Leber die berühmte Stopfleberpastete zu gewinnen, und dass man die Rinder nur aufzieht, um sie schließlich zum Schlachthof zu karren und Steaks aus ihnen zu machen. Seither will Giovannino, wenn der Großvater dabei ist, kein Fleisch mehr essen,um ihm eine Freude zu machen, aber allein mit seinem Vater schon, denn im Grunde ist er verrückt nach Fleisch. Giovannino lässt jeden, wie er ist, ist nie jemandem böse und, soweit man das von einem Kind sagen kann, sehr tolerant. Aber auch überaus vorsichtig. Man merkt, dass er es gewohnt ist, sich allein in einer Wohnung in einer Großstadt voller Gefahren aufzuhalten. Wenn man an der Tür der Johnsons klingelt und er allein zu Hause ist, ruft er: »Wer ist da?« Nachdem er eine Antwort erhalten hat, öffnet er langsam einen Spaltbreit die Tür und späht hinaus, um sie schnell wieder zuschlagen zu können, falls es jemand Fremdes ist und er sich in der Stimme geirrt hat. Erst, wenn er einen sieht, hellt sich seine Miene auf: »Du bist es!«, sagt er und strahlt über das ganze Gesicht, froh, dass die Stimme zu dem richtigen Träger gehört und die Welt doch gut ist, so wie sein Vater es ihn gelehrt hat.
Denn Johnson junior zufolge ist es besser, wenn man in den ersten Lebensjahren nichts über das Böse in der Welt erfährt, es sei denn, man ist direkt davon betroffen. Es führt zu nichts Gutem, glückliche Kinder, die vom Bösen bislang verschont wurden, mit allen möglichen Formen der Grausamkeit vertraut zu machen, im Gegenteil, es bringt sie womöglich nur auf schlechte Gedanken, sagt er. Es reicht, wenn man zwei, drei Sicherheitsregeln befolgt, wie zum Beispiel zu fragen: »Wer ist da?«, bevor man die Tür aufmacht, und darauf gefasst zu sein, sie augenblicklich wieder zuzuschlagen, falls der Träger der Stimme nicht der ist, für den manihn gehalten hat, wobei es ja nicht unbedingt gesagt ist, dass er einen absichtlich täuschen wollte, man kann sich ja auch einfach nur verhört haben.
Ich hingegen habe immer Angst, dass den Menschen, die ich liebe, etwas zustoßen könnte. In unserem Haus könnte Gas austreten oder ein Brand ausbrechen, der uns alle hinwegrafft. Es wäre nicht ganz so schlimm, wenn ich selbst unter den Opfern wäre, aber ich würde es nicht ertragen, wenn ich während des Unglücks außer Haus wäre und bei meiner Rückkehr niemanden mehr vorfände. Ganz bestimmt, das würde ich nicht überleben. Deswegen bin ich ständig auf der Hut, kontrolliere immer wieder aufs Neue den Gashahn und die Herdplatten, sehe nach, ob das Eingangstor abgeschlossen ist, damit möglichen Mördern der Einlass verwehrt ist.
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