Die Welt auf dem Kopf
machen oder etwas Unbedeutendes zu erzählen, und schon schüttet er sich aus vor Lachen und gibt einem das Gefühl, dass man selbst derjenige ist, der nett und sympathisch ist.
Deswegen habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, sobald ich nach Hause komme, nach oben zu laufen, um ihm zu berichten, wie mein Tag war. Oft sagt er dann: »Erzähl mir die Einzelheiten, die wirklich bedeutend sind. Wenn du alles hineinpackst, wirst du nie eine gute Schriftstellerin. DieDetails sind es, die unser Glück und unser Unglück ausmachen.«
Wenn ich ihm meine Gedichte vortrage, hört er mir aufmerksam zu.
Mein müdes Herz
Entblößt sich, wird nackt,
Im ständigen Bitten
Um Liebe.
Das Betteln um Almosen
Häutet mir das Herz,
Bis es langsam verwelkt.
Oder:
Jetzt, da ich gelebt habe,
Kann ich in Frieden sterben,
Liebkost mich ruhig,
Mein Kopf ist grau geworden,
Wie der einer alten Frau,
Weil ich gelebt habe,
Und jetzt kann ich in Frieden
Sterben.
»Seit wann schreibst du schon?«, fragte mich Johnson junior.
»Nach dem Unglück habe ich angefangen, Gedichte zu schreiben.«
»Schon immer so traurige? Auch als Kind?«
»Als Kind habe ich noch traurigere geschrieben: von quietschenden Friedhofstoren, von Asche, die aus Gräbern entweicht und vom Wind zerstreut wird, von Kindern, die sich zu weit von zu Hause entfernen und im aufkommenden Unwetter den Heimweg nicht mehr finden. Von solchen Dingen.«
»Warum schreibst du?«
»Weil alles vergeht und verloren geht und nur das Geschriebene bleibt.«
»Ach, wenn doch nur alles bliebe und nur deine Gedichte vergingen!«
Er schlug mir vor, die Gedichte sein zu lassen und stattdessen Prosa zu schreiben, und das mache ich auch. Wenigstens versuche ich es, auch das mit den Details; ich notiere mir alles, Worte, Gesten. Johnson junior meint, ich käme ihm vor wie eine Simultandolmetscherin bei einer Konferenz der Vereinten Nationen.
Weil ich mich noch nie so wohlgefühlt habe, würde ich am liebsten die Zeit anhalten. Wenn es nach mir ginge, könnte alles so bleiben, wie es ist: Anna, die für Johnson senior ihre sexy Tunika weit aufgeknöpft trägt, ich, die ich regelmäßig mit Giovannino an den Strand gehe, Giovannino, der hin und wieder Bemerkungen von der Sorte macht: »Heute ist das Meer perlgrau wie der Himmel« oder: »Heute hat es drei Streifen, einen himmelblauen, einen smaragdgrünen und einen kobaltblauen«. Und natürlich ist einem dann sofort klar, dass er an seine Buntstifte denkt.
Von Zeit zu Zeit verschwindet Johnson junior. Wenn ich Giovannino frage, wo er ist, erwidert er nur, dass sein Vater vielleicht bei Omar ist. »Und wer ist dieser Omar?«, frage ich, worauf er sagt, dass es sich um einen Freund aus Paris handelt, er sei jedoch kein Franzose, sondern Araber. Hin und wieder komme er auch nach Cagliari, aber obwohl sie ihn eingeladen hätten, bei ihnen zu wohnen, ziehe er es vor, ein Hotelzimmer zu nehmen.
Wenn Johnson junior länger wegbleibt, fängt auch Giovannino an, sich Sorgen zu machen. Ich merke es daran, wie er auf die Schritte seines Vaters lauscht. Auch ich ertappe mich dabei, wie ich immer wieder auf den Hof oder die Straße hinausspähe. Ob es an den zwanzig Jahren Altersunterschied liegt, dass mich Johnson junior nicht als Freundin in Betracht zieht? Obwohl doch alles förmlich danach schreit: »Umarmt euch endlich!«, »Küsst euch auf den Mund!«, »Schlaft miteinander!«?
Oder findet er mich nicht attraktiv? Aber um ehrlich zu sein, scheint selbst Natascha ihn nicht anzuziehen, obwohl sie locker mit diesen Sexgranaten aus den Pornoheften von Mr. Johnson mithalten kann, aber Johnson junior hat allem Anschein nach seine moralischen Prinzipien, schließlich ist sie verlobt.
Natascha meint, dass das Desinteresse von Johnson junior nichts mit meinem Äußeren zu tun haben könne, denn ich sähe klasse aus. Aber das findet sie nur, weil ihre Eifersucht sie blind macht, deswegen will sie auch nicht, dass ihrFreund mich kennenlernt – weil sie Angst hat, dass er sich in mich verlieben könnte. Sie ist eifersüchtig auf alle Frauen, sogar auf hässliche. Ihre Eifersucht bringt sie sogar dazu zu sagen, sie würde am liebsten eine Zyankalikapsel in einem Pillendöschen an ihrer Halskette tragen, um sie beim ersten Anzeichen, dass ihr Freund sich für eine andere interessiert, zu schlucken.
Als ich Anna anvertraute, dass ich mich in Johnson junior verliebt habe, sah sie mich erschrocken an, fast so, als hätte ich gesagt, dass ich
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