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Die Welt aus den Fugen

Die Welt aus den Fugen

Titel: Die Welt aus den Fugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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Artikulation erkannt.
    Die Chinesen selbst werden über ihre politische Zukunftsgestaltung entscheiden. Jede Einmischung von außen wäre nicht nur ungehörig, sondern töricht. Es sind manche Entgleisungen vorstellbar, aber unbestreitbar herrscht bei allen Schichten des Reiches der Mitte ein glühender Nationalismus vor. Das Wort »Staatskapitalismus«, mit dem man das aktuelle System Pekings definieren möchte, entbehrt jeder präzisen Definition. Was nun die Handvoll intellektueller Revisionisten betrifft, die in Europa bewundert werden, so muß selbst eine liberale deutsche Zeitung eingestehen, »daß deren Einfluß sich auf begrenzte Literatenzirkel erstreckt und weniger auf die Gesellschaft als Ganzes«. Wer aber von angeblichen »Minderwertigkeitskomplexen« redet, die den überspannten Ehrgeiz der chinesischen Führung motivieren, hat vom Reich der Mitte und seinem titanischen Erwachen nichts verstanden. Selbst in der Epoche der schlimmsten Erniedrigung hat sich die Han-Rasse allen anderen Völkern überlegen gefühlt und die europäischen Eindringlinge als »red faced barba­rians«, als rotgesichtige Barbaren«, verachtet.
    Ein Mord in Chongqing
    Es traf sich gut, daß ich das Augenmerk meiner letzten China­reise im Herbst 2010 auf die Provinz Szetschuan im Yangtse-Becken und speziell auf die ungeheuerliche Agglomeration Chongqing mit ihrer Ballung von dreißig Millionen Menschen gerichtet hatte. Ich war bereits im Jahr 1981 zugegen in dieser Region, aus der der große Staatsmann Deng Xiaoping stammte, die er als Parteisekretär später verwaltete und in der er – präzis zum Zeitpunkt meines Aufenthalts – seine erste große Modernisierung, die behutsame Privatisierung der Landwirtschaft, in die Wege leitete. Ähnlich wie bei der Währungsreform von 1949 in Deutschland, konnte ich an Ort und Stelle feststellen, wie die bisher extrem kärglich belieferten Märkte von einem Tag zum anderen mit Lebensmitteln überschwemmt wurden und sich beim Volk das Gefühl einer radikalen Besserung ihrer Existenz einstellte.
    Ansonsten bot Chongqing zu jener Zeit ein erbärmliches Schauspiel. Elende, verwahrloste Hütten klebten an den steilen Gassen dieser tristen Metropole. Im Zweiten Weltkrieg – als Chiang Kai-shek hier seine zentrale Bastion gegen die vergeblich durch die Yangtse-Schluchten vorrückenden Japaner behauptete – war die Stadt dem unaufhörlichen Bombardement der Luftwaffe des Tenno ausgeliefert. Vor dreißig Jahren hatte sich in den engen Gassen ein Bild der Verwüstung erhalten. Die Kulturrevolution der sechziger Jahre hatte Chongqing besonders grausam heimgesucht. Am Ende lieferten sich die Arbeiterschaft der Fabriken von Szetschuan und die entfesselten Rotgardisten regelrechte Gefechte, denen erst der Einsatz der Volksbefreiungsarmee mit schweren Waffen ein Ende setzte.
    Was sich in der Zwischenzeit im Yangtse-Becken an Veränderungen vollzogen hat, grenzt ans Übermenschliche. Die steilen Ufer des Stroms sind von massiven weißen Baufronten wie von einem Festungsgürtel gesäumt. Die wuchtigen Gebäude, die keine sonderliche architektonische Inspiration verraten, wohl aber einen hemmungslosen Willen zur Macht, ragen als »skyscraper« buchstäblich in die graue, feuchte Wolkendecke, die sich über Chongqing so selten lüftet, daß man sagt, die Hunde begännen zu bellen, wenn die Sonne einmal durchbräche. In den Schluchten reihen sich die Blocks der Geschäftszentren und der Wohnsilos bis ins Unendliche aneinander. Die sich überall stauende Menschenmasse ist dazwischen eingekeilt wie bunte Mosaiksteinchen. Von den »blauen Ameisen« der Mao-Ära ist keine Spur übrig. Früher war die Stadt Chongqing für die Benutzung von Fahrrädern ungeeignet, so steil fielen die Hänge zum gewaltigen Strom ab. Heute hat man durch ein System sich ständig überlagernder Autobahnen Raum geschaffen für den erdrückenden Verkehr. Die Luxuskarossen teuerster ausländischer Marken sind ebenso zahlreich wie die Boutiquen der exklusivsten europäischen Modeschöpfer. Überfüllte Restaurants, Karaoke-Clubs und dröhnende Diskotheken übertönen nach Einbruch der Dunkelheit den rauschenden Lärm des Verkehrs.
    In Szetschuan ist nicht alles Gold, was glänzt. Der Boom der Bauwirtschaft ist mit Spekulation und Korruption

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