Die Welt aus den Fugen
Irakkrieg völlig versagt. Keine einzige Stimme eines deutschen Orientalisten hat sich gegen die grauenhaften Dinge, die im Irak passiert sind, erhoben. Sie sind alle ganz still geworden. Jetzt kommen sie allmählich wieder aus ihren Löchern heraus.
In Ihrem leidenschaftlichen Werk »Der Fluch des neuen Jahrtausends« vertreten Sie die These, daà der Einfluà der Religionen heutzutage sehr viel stärker ist als früher und daà es bei zahlreichen Kriegen nicht um nationale, sondern um religiöse Konflikte geht.
Die These, daà die Religionen immer einfluÃreicher werden, habe nicht ich erfunden, sondern schon André Malraux, einer der am meisten bewunderten Autoren meiner Jugend. Er prophezeite: Das 21. Jahrhundert wird religiös sein, oder es wird nicht sein. Es ist tatsächlich so gekommen. Die Wiedergeburt des Islam ist in vollem Gange. Der säkulare Islam, die Zeit von Kemal Atatürk, ist vorbei. In fünf Jahren wird die Türkei eine islamische Republik sein. Auch in Amerika findet eine Wiedergeburt des Religiösen statt. Das Wort »FundamenÂtalismus« stammt ja von dort, es trat erstmals im Zusammenhang mit der von dem amerikanischen Erweckungsprediger Reuben Archer Torrey herausgegebenen Schriftenreihe »The Fundamentals. A Testimony to the Truth« auf, die sich gegen die liberale Theologie wendet. Eine Umfrage in den USA ergab kürzlich, daà die Mehrheit der Leute der Meinung ist, daà es in Ordnung sei, wenn eine Frau, ein Schwarzer oder ein Schwuler Präsident würde. Aber 87 Prozent der Leute sagen: »Ein Gottloser kann auf keinen Fall Präsident der Vereinigten Staaten werden.« Auch in RuÃland gibt es keine wichtige Veranstaltung mehr ohne ein hohes Mitglied der orthodoxen Hierarchie. Putin bekreuzigt sich, wann immer er kann. China ist der einzige Sonderfall. Die konfuzianische Lehre ist eine Sittenlehre, die nicht transzendent ist.
Gibt es in Ihren Büchern und Reportagen eigentlich eine Botschaft, die Sie transportieren möchten?
Ich habe meine Tätigkeit niemals als das Ãberbringen einer Botschaft verstanden. Ich habe mich darauf beschränkt, die Dinge möglichst wirklichkeitsnah zu beschreiben. Ich glaube, das reicht schon. Das Wort »Wahrheit« möchte ich dabei gar nicht in den Mund nehmen. Aber wenn ich schon eine Botschaft haben sollte, dann ist es diese: Wir unterliegen einer so massiven Desinformation, daà ich mit meinen Büchern dagegen antreten möchte. Ich werde jetzt polemisch: Unsere Politiker, die Parlamentarier und Minister, sind voll informiert über das, was in Afghanistan vor sich geht. Spätestens seit 2003 haben sie die Berichte von den örtlichen Kommandeuren vorliegen, aber sie nehmen sie nicht zur Kenntnis. Sie sitzen in den Talkshows und reden blühenden Unsinn, während gleichzeitig jemand wie der ehemalige Bundeswehr-Oberstarzt Reinhard Erös, der in einer der übelsten Ecken von Afghanistan ein Krankenhaus und Schulen aufgebaut hat und die Lage vor Ort wirklich kennt, neben ihnen sitzt und sagt: »Ich habe verlangt, daà sich im Umkreis von zehn Kilometern um das Krankenhaus kein amerikanischer Soldat sehen läÃt, damit wir in Sicherheit sind. Die Truppe schützt nicht, sie gefährdet.« Solche Geschichten muà man zur Kenntnis nehmen.
Sie waren in Ihrem Leben Zeuge vieler kriegerischer Auseinandersetzungen. Gibt es eine Chance, daà die Menschheit irgendwann von der Politik der Kriege wegkommt?
So wie es im Moment aussieht, leider nicht. Die deutsche Sicht der Dinge ist dadurch getrübt, daà das Land im Gegensatz zu fast allen anderen Ländern der Welt sechzig Jahre Frieden hinter sich hat. Deshalb meint man hier, daà Frieden der normale Zustand der Menschheit sei. Aber ich glaube, daà der normale Zustand leider die kriegerische Auseinandersetzung ist.
1 Die Zeit
2 Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
3 Berliner Morgenpost
4 Gespräch mit Gregor Gysi im Deutschen Theater, Berlin
5 Der damalige Chefredakteur war nämlich der bayerische Graf Montgelas.
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