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Die Welt aus den Fugen

Die Welt aus den Fugen

Titel: Die Welt aus den Fugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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Revolution starb, hatte während seiner sechzigjährigen Allmacht einer letzten grandiosen Entfaltung des »Himmlischen Reiches« vorgestanden. Obwohl sein Regime ähnlich wie die mongolische Yuan-Dynastie Kublai Khans ein halbes Jahrtausend zuvor trotz aller kultureller Sinisierung von den authentischen Han als barbarische Eroberung aus der Steppe empfunden wurde, wirkt das Erbe Qian Longs bis auf den heutigen Tag fort.
    Bis zur republikanischen Revolution Sun Yatsens im Jahr 1911 war der Konfuzianismus die offizielle Staatsdoktrin dieses zerfallenden Imperiums. Um sicher zu sein, nicht ihrerseits durch irgendwelche kriegerischen Nomadenhorden bedroht zu werden, waren die Kaiser der Qing-Dynastie auf eine überaus listige Politik verfallen. Zumal in die unendliche Weite der mongolischen Hirten und ihrer Yurten entsandten sie Prediger und Missionare des Hinayana-Buddhismus. Die räuberische Wildheit dieser Steppenreiter, die bislang durch die magischen Bräuche eines finsteren Schamanismus gesteigert wurde, erlag der Gesittung, der Friedfertigkeit, der passiven Schicksalsergebenheit und dem Weltverzicht Gautamas. Sie fügten sich der geistlichen Betreuung durch eine Vielzahl von Lama-Klöstern. Mit der Bekehrung zu den Weisheiten Buddhas ging den fernen Nachfolgern Dschingis Khans jene Aggressivität verloren, die einst den halben Erdball mit Furcht und Entsetzen erfüllt hatte.
    Von Anfang an hatte sich bei den Mongolen die tantrische Form des Buddhismus mit ihren furchterregenden Dämonenvorstellungen durchgesetzt, wie sie in Tibet beheimatet ist. Damit blieben auch Elemente der Gewalt, der Grausamkeit erhalten. So muß man jenen Heilssuchern und Pazifisten des Westens, die in der Pflege ihres Karmas und dem weltabgewandten Streben nach dem Nirwana eine Erlösung aus den materiali­stischen Zwängen unserer Zeit suchen, entgegenhalten, daß es auch in rein buddhistischen Regionen zu entsetzlichen Massakern und Unterjochungen gekommen ist. Frommer als das Königreich Kambodscha mit seinen zahllosen Bonzen und ­Pagoden konnte ein Staat gar nicht sein, aber dann brach eines Tages, durch die amerikanische Kriegsausweitung ausgelöst, der Horror der Roten Khmer und der »killing fields« über diese ehemalige Oase der Friedfertigkeit herein. In Sri Lanka hat die buddhistische Regierung einen hemmungslosen Vernichtungsfeldzug gegen die nach Autonomie strebende hinduistische Minderheit der Tamilen ausgelöst. In der Unionsrepublik Bur­ma, die heute Myanmar heißt, hat eine tyrannische Generalskamarilla – ungeachtet der gigantischen Buddha-Statuen und ganzer Wälder von Stupas – die zutiefst buddhistische Bevölkerung ins Unglück gestürzt und geknechtet.
    In Ulan Bator wird heute eine große Toleranz praktiziert. Die Monsterdarstellungen des Nationalhelden Dschingis Khan haben nicht die Darstellungen des kommunistischen Staatsgründers Tschoibasan, die Statuen Lenins oder Marco Polos verdrängt. Überragt werden jedoch diese Zeugen einer widersprüchlichen Vergangenheit durch die in Gold erstrahlende Riesenerscheinung Gautamas, die zahllose Pilger anzieht. Die Duldsamkeit geht so weit, daß ich neben einem missionarischen Zentrum der amerikanischen Mormonen auch die massive Kathedrale Peter und Paul entdecke, die allerdings nur eine Hundertschaft meist vergreister Gläubiger betreut. Zunehmenden Einfluß üben vor allem die Türken aus mit ihrer koranischen Botschaft. Sie stützen sich dabei auf die islamische Gefolgschaft der weltweit operierenden ­Organisation Fetullah Gülen, die – dem Anspruch des Ministerpräsidenten Erdogan folgend, die Mongolen gehörten auch irgendwie zur weitverzweigten Familie der Turkvölker – hochmoderne Schu­len und gewaltige Moscheen gegründet hat. Als es vor vier Jahren jedoch, anläßlich der Wahlen zum »Kural«, zum Parlament, zu blutigen Zwischenfällen zwischen der Nachfolgepartei der Kommunisten und der neuen Fraktion der »Demokraten« kam, haben die Soldaten der disziplinierten Armee und nicht die in safranfarbene Roben gekleideten Mönche des Buddhismus den Feindseligkeiten ein Ende gesetzt und Ruhe und Ordnung wiederhergestellt.
    Da inzwischen die absurdesten Thesen umgehen über das Machtverhältnis massiver kontinentaler Blöcke und der am Rande operierenden Seefahrernationen, kommt der unkonventionelle Blick auf die

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