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Die Welt aus den Fugen

Die Welt aus den Fugen

Titel: Die Welt aus den Fugen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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einhergegangen. Der oft zitierte »Staatskapitalismus« ist – laut freimütigem Eingeständnis meiner chinesischen Begleiter – in Chongqing wie in so manchen anderen gigantisch expandierenden Metropolen des Reiches der Mitte dem hemmungslosen, oft kriminellen Bereicherungsdrang einer neuen Finanz­elite ausgeliefert. Schon redet man vom Entstehen neuer »Triaden«, von verschwörerischen Geheimbünden, die bis in die höchsten Kreise der Einheitspartei reichen. Daneben – das sollte man nicht kleinreden – vollzieht sich jedoch das Ent­stehen eines soliden Mittelstandes. Die einst erbärmliche Entlohnung der Arbeiter wurde inzwischen so konsequent angehoben, daß gewisse asiatische Newcomer wie Vietnam, Bangladesch, Sri Lanka und sogar Indien westlichen Investoren vorteilhaftere Produktionskosten anbieten können.
    Ausgerechnet in Chongqing, diesem Paradeplatz spektakulären Fortschritts und wachsenden Wohlstandes, ist im Frühjahr 2012 die Skandalstory des höchsten Parteisekretärs der Region, Bo Xilai, wie eine Bombe geplatzt. Die Affäre liest sich wie ein Kriminalroman. Der Spitzenfunktionär Bo Xilai hatte seine Domäne wie ein Vizekönig verwaltet und galt als der verdienstvolle Initiator des dortigen Wirtschaftswunders. Seine Ambitionen waren jedoch zusätzlich auf eine Schlüsselrolle in den intimsten Entscheidungsgremien, im ständigen Ausschuß des Politbüros gerichtet, zumal er als Sohn eines der frühesten Veteranen der kommunistischen Revolution zur Kategorie der »Prinzlinge« zählte. Um seinem Aufstieg eine unwiderstehliche Schubkraft zu verleihen, hatte er plötzlich die Rückkehr zu gewissen maoistischen Tugenden gesellschaftlicher Nivellierung und ideologischer Straffung gepredigt und ließ die konsumverwöhnten Schulkinder Szetschuans die längst vergessenen Chöre der verhaßten Mao-Witwe ­Jiang Qing anstimmen. Die aus dem Repertoire verschwundene stimmungsvolle Hymne »Der Osten ist rot« tönte wieder auf.
    Aber Bo war kein Mao. Sehr schnell wurde ruchbar, daß er an der überall grassierenden Bestechlichkeit maßgeblich beteiligt war, daß er Milliardensummen ins Ausland verschoben hatte. Der Gipfel war erreicht, als gegen seine Frau, Gu Kailai, die an den Betrügereien beteiligt war, die Anklage erhoben wurde, einen englischen Geschäftsfreund und vermeintlichen Komplizen namens Neil Heywood vergiftet zu haben. Sie wurde inzwischen zum Tode verurteilt. Vielleicht hätte sich dieser immense Skandal noch auf dem Weg geheimer Absprachen zwischen den beiden Machtfraktionen der Generalsekretäre Hu Jintao und Jiang Zemin und durch die diskrete Hinrichtung der Schuldigen verheimlichen lassen. Aber zur Verblüffung des amerikanischen Konsuls in Chengdu, der Provinzhauptstadt von Szetschuan, war der oberste Polizeichef von Chongqing, Wong Lijun, im Zustand der Panik in dessen Gebäude aufgetaucht, um – nach der Veröffentlichung der Verbrechen der Familie Bo – Zuflucht und Asyl in der ­exterritorialen US-Vertretung zu suchen.
    Welche Konsequenzen sich aus diesem ungewöhnlichen Vorfall eines extrem peinlichen Gesichtsverlusts ergeben, bleibt ungewiß. Man sollte sich nicht darauf verlassen, daß – im Gegensatz zu den Wunschvorstellungen des Westens – im großen Volkspalast von Peking eine Kopie jener freiheitlichen Debatten stattfände, wie sie auf Capitol Hill, in Westminster oder im Berliner Reichstag üblich sind. Statt dessen könnte der Ruf nach einer charismatischen Führungspersönlichkeit laut werden, nach einem roten »Drachensohn«, der jenseits aller internen Parteiränke seine eigenmächtigen Weisungen erteilt und – wie zur Zeit der großen Kaiser der Vergangenheit – mit dem Vermerk abschließt: »Zittere und gehorche!«
    Buddhismus zwischen Weiß und Rot
    Der mongolische General Osoryn Otgonjargal hat mich zu einem Picknick im Grasland westlich von Ulan Bator eingeladen. Wir kauern mit meinem Freund Udo Haase, der noch aus der Zeit der DDR über eine perfekte Kenntnis der mongolischen Sprache verfügt und bei den Erben Dschingis Khans höchstes Ansehen genießt, zu Füßen einer neu erbauten buddhistischen Pagode. Es wird viel Wodka konsumiert. Der General ist 82 Jahre alt, und uns beide vereint bald jene heitere Skepsis sehr alter Männer, die ich

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