Die Welt aus den Fugen
Erkundungsfahrt habe ich China immer wieder bereist, fast alle Provinzen des Riesenreichs aufgesucht und auch Tibet, Xinjiang sowie die Innere Mongolei nicht ausgelassen. Mit meinen Betrachtungen habe ich der »political correctness« den Rücken gekehrt und dafür die unvermeidliche Kritik geerntet, mit Ausnahme übrigens der beiden kompetentesten Botschafter der Bundesrepublik in Peking, Erwin Wickert und Konrad Seitz. In den westlichen Medien bleibt die Volksrepublik einer systematischen Desinformationspolitik ausgesetzt, die von gewissen nordamerikanischen Spezialinstituten sehr professionell geschürt wird. Zumal mit meiner Beurteilung der tragischen Ereignisse am Platz des Himmlischen Friedens im Juli 1989 bin ich in Verruf geraten. Unmittelbar nach der Niederschlagung dieses Aufruhrs bin ich in Peking eingetroffen und habe auf dem »Tien An Men« zwar Spuren von Panzerfahrzeugen gesehen, die die dortigen Notunterkünfte und Zelte zermalmt hatten, aber ich habe kein einziges EinschuÃloch automatischer Waffen oder gewöhnlicher Gewehre entdeckt. Die Schilderung eines wahllosen Massakers durch schieÃwütige Soldaten entsprach nicht der Wirklichkeit. Die Exekutionen von Demonstranten, deren Zahl für ganz China von Amnesty International auf etwa 900 beziffert wird, haben vermutlich in düsteren Nebengassen oder in irgendwelchen Haftanstalten stattgefunden.
Natürlich gehörte meine Sympathie den jungen idealistischen Aufrührern, die Freiheit und Demokratie, kurzum die Ãbernahme des westlichen Modells forderten. Die Aufstellung einer plumpen Nachahmung der New Yorker Freiheitsstatue am Eingang der Verbotenen Stadt hatte die Richtung gewiesen. Unter den aufbegehrenden Studenten und Intellektuellen befanden sich übrigens zahlreiche Söhne und Töchter der kommunistischen Oligarchie. Sie verlangten gebieterisch und zunehmend gewalttätig die Einführung eines Multiparteiensystems, unbeschränkte Meinungsfreiheit und eine liberale Marktwirtschaft.
Wenn nach heftigen Disputen im höchsten Parteigremium der Ministerpräsident Li Peng schlieÃlich den Befehl gab, den Tumult, der sich inzwischen auch gegen die zunächst unbewaffneten Soldaten der Volksbefreiungsarmee richtete, mit Gewalt niederzuschlagen, so geschah das zweifellos aus der Befürchtung, daà sich aus dieser Revolte eine neue, eine »weiÃe Kulturrevolution« entwickeln könnte. Die Exzesse der Rotgardisten des greisen Mao Zedong waren noch in frischer Erinnerung, zumal bei Deng Xiaoping, der mit der Schandkappe durch die StraÃen gejagt und mitsamt seiner Familie schlimmsten Demütigungen und Gewaltakten ausgesetzt war.
Vielleicht ahnte Deng auch bereits, daà das Perestroika-Experiment Gorbatschows, das in Europa solche Begeisterung auslöste, zur staatlichen Auflösung der Sowjetunion und einem Massenelend führen würde, wie es die russische BevölkeÂrung seit Stalins Zeiten nicht mehr gekannt hatte. Die westlich orientierten Aufrührer besaÃen weder ein präzises politisches Programm noch eine halbwegs überzeugende Führungsgestalt. Sie drohten, das Reich der Mitte in Chaos und Bürgerkrieg zu stürzen, die â wie das in China bei ähnlichen Umstürzen stets üblich war â Millionen Todesopfer gefordert hätten. Kurzum, der kleine, geniale Parteichef Deng, der einmal gesagt hatte, es sei egal, ob eine Katze weià oder schwarz sei, Hauptsache sie fange Mäuse, griff nun auf einen anderen chinesischen Leitsatz zurück, nämlich man müsse ein Huhn schlachten, um eine Horde Affen zu verjagen.
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Was sich seit dem dramatischen Zusammenprall am Platz des Himmlischen Friedens in der Volksrepublik vollzogen hat, muà als Wunder bezeichnet werden. Wer hätte damals geahnt, daà die chinesische Hafenstadt Shanghai mit den futuristischen Türmen von Pudong die amerikanische Metropole New York und ihre »battery« überholen würde? Das Reich der Mitte, das zur Zeit der Kulturrevolution über eine erbärmliche Infrastruktur verfügte, wird heute in allen Himmelsrichtungen von einem Netz sechsspuriger Autobahnen durchzogen. Chinesische Kosmonauten bereiten sich vor, zum Mond zu starten. Die Dynamik dieser Entwicklung zur zweiten, morgen vielleicht zur ersten Weltmacht kann wohl nur jemand ermessen, der ihren Aufstieg aus einem Abgrund von Elend und arroganter Fremdherrschaft persönlich
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