Die Welt der Drachen
unaufhörlich von Erinnerungen gequält.
Starb ein Reiter, so begab sich sein Drache ins Dazwischen, jenes eiskalte Nichts, durch das man ohne Zeitverlust weit voneinander entfernte Orte überbrücken konnte. Lessa wusste, dass es für Uneingeweihte gefährlich war, das Dazwischen zu durchqueren. Wer sich länger als drei Atemzüge in diesem Medium aufhielt, war verloren.
Und doch hatte der Ritt auf Mnemenths Rücken den Wunsch in ihr geweckt, dieses Erlebnis zu wiederholen. Sie war davon überzeugt gewesen, dass man ihr erlauben würde, Ramoth zu reiten. Aber R'gul ließ es nicht zu. Sie war nach Ramoth die wichtigste Person des Weyrs, und er wollte ihr Leben nicht gefährden. So musste sie ohnmächtig zusehen, wie über dem Weyr die halbwüchsigen Jungen mit ihren Drachen Übungsritte veranstalteten, während sie selbst eine Gefangene ihres Amtes war.
Warum sollte eine Königin nicht fliegen können?
Bestimmt besaß sie die gleichen angeborenen Fähigkeiten wie die Drachenmännchen. Lessas Theorie wurde von der Ballade Moretas Ritt gestützt.
Hatten diese Balladen nicht die Aufgabe, Wissen zu vermitteln? Sollten sie nicht die des Lesens und Schreibens Unkundigen an ihre Pflichten gegenüber Pern erinnern? Diese beiden Vollidioten mochten die Existenz der Ballade leugnen, aber woher hatte Lessa sie gelernt, wenn es sie nicht gab?
Sobald R'gul ihr das »traditionelle« Amt der Archivhüterin übertrug - und wehe, er tat es nicht bald! - würde sie die Ballade rasch finden. Doch bis jetzt speiste er sie immer mit der Ausrede ab, der rechte Augenblick sei noch nicht gekommen.
Der rechte Augenblick! dachte sie wütend. Der rechte Augenblick! Worauf warteten sie noch? Bis die Monde grün wurden? Oder dieser hochmütige F'lar! Worauf wartete er? Auf das Vorüberziehen des Roten Sterns, an dessen Gefahr nur er zu glauben schien?
Sie atmete tief ein. Immer wenn sie an diesen Stern dachte, spürte sie in ihrem Innern eine kalte Drohung.
Unwillig schüttelte sie den Kopf. Diese Bewegung war unklug, denn sie erregte R'guls Aufmerksamkeit. Er sah von den Schriften auf, die er mit großem Eifer las. Als er ihre Tafel zu sich heranzog, weckte er den schlafenden S'lel.
»Wie? Ja?« stammelte der Drachenreiter und kehrte mühsam in die Wirklichkeit zurück.
Das war zuviel.
Lessa setzte sich mit S'Iels Tuenth in Verbindung, und der Drache ging sofort auf ihren Vorschlag ein.
»Ich muss gehen, Tuenth wird unruhig«, sagte S'lel prompt.
Er eilte erleichtert zum Korridor, und Lessa hörte, wie er draußen jemanden begrüßte. Sie sah gespannt zum Eingang.
Vielleicht ergab sich eine Gelegenheit, R'gul loszuwerden.
Es war Manora, die Aufseherin der Unteren Höhlen. Lessa empfing sie mit kaum verhohlener Freude, und R'gul, der in Manoras Gegenwart immer nervös wirkte, verabschiedete sich rasch.
Manora, eine stattliche Frau in mittleren Jahren, strahlte Ruhe und Zielstrebigkeit aus. Sie hatte sich mit ihren Aufgaben abgefunden und erfüllte sie mit würdevoller Gelassenheit. Ihre Geduld war ein stiller Vorwurf für Lessas aufbrausendes Temperament. Von allen Frauen im Weyr bewunderte und achtete Lessa Manora am meisten. Der Instinkt sagte ihr, dass sie es kaum fertig bringen würde, die Freundschaft einer dieser Frauen zu gewinnen. Aber die zurückhaltenden Gespräche, die sie mit Manora führte, befriedigten sie.
Manora hatte die Vorratslisten mitgebracht. Es gehörte zu ihren Pflichten, die Weyrherrin über Haushaltsprobleme auf dem laufenden zu halten.
»Bitra, Benden und Lemos haben ihre Abgaben zum Weyr gesandt, aber das wird diesmal nicht ausreichen, um uns über den Winter zu bringen.«
»Eine Planetendrehung zuvor wurden wir auch nur von diesen drei Burgen versorgt, und wir hatten doch reichlich zu essen.«
Manora lächelte liebenswürdig, aber man sah ihr an, dass sie mit dem Wort »reichlich« nicht einverstanden war.
»Gewiss, aber wir hatten noch getrocknete Vorräte von reicheren Erntejahren. Sie sind nun aufgebraucht.
Bis auf den Fisch von Tillek ...«
Sie sprach den Satz nicht zu Ende.
Lessa schüttelte sich. Fisch hatte es in letzter Zeit nur allzu oft gegeben, getrockneten Fisch, gepökelten Fisch ...
»Und unser Mehl geht zur Neige, da Benden, Bitra und Lemos kein Getreide anbauen. «
»Wir benötigen also vor allem Getreide und Fleisch?«
»Auch Obst und Wurzelgemüse«, meinte Manora nachdenklich. »Damit können wir den Speiseplan abwechslungsreicher gestalten - besonders, falls die
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