Die Welt der Kelten
das elbische Wesen, das auch zur Natur und zu vermeintlich toten Dingen
eine intensive Beziehung unterhält – denn auch in Bäumen, Tieren, Waffen und Schmuck sehen sie besondere Kräfte walten. Tolkien
greift für seine Elben auf Elfenvorstellungen der irischen Heldenerzählungen zurück. Denn die kleinen geflügelten Wesen der
späteren Zeit, wie man sie in den irischen Elfenmärchen der Grimms findet, waren ihm zuwider. Seine Gestalten erinnern an
die in die Anderwelt vertriebenen Tuatha Dé Danann, die er stark idealisiert und ihrer dunklen Seiten beraubt.
Diese lichte Seite der Elben Tolkiens verdeutlicht eine Szene des
Herrn der Ringe
, in der Frodo Beutlin und seine Begleiter zum ersten Mal auf Angehörige des geheimnisvollen Volkes treffen: Von ihnen geht
ein eigentümlicher Zauber aus, der sogar die Schwarzen Reiter bannt, die Furcht erregenden Diener des dunklen Herrn. Denn
eben haben sich die Hobbits noch im Schatten hoher Eichen versteckt, verstört vom Geräusch sich nähernder Hufe und bang auf
einen schwarzen Schatten starrend, der auf sie zukroch. Da erklingt auf einmal ein Gesang heller lachender Stimmen, die die
Mächte der Dunkelheit vertreiben. Dann nähern sich die Stimmen mit ihrem Lied in der Elbensprache, das Elbereth, die göttliche
Sternenkönigin besingt. Die Elben gehen langsam ihres Wegs und schreiten an den Hobbits vorbei. Obwohl sie kein Licht tragen,
scheint ein Schimmer wie das Mondlicht auf sie zu fallen. Der letzte der Gruppe spricht Frodo an, dessen Namen er kennt: Die
Elben wüssten viele Dinge, obwohl sie selten gesehen würden. Auf die wenigen Kenntnisse ihrer Sprache, über die die Hobbits
verfügen, reagieren sie amüsiert und nennen sie Elbenfreunde. Sie nehmen sie für die Nacht in ihre Obhut, entzünden ein Feuer
und laden sie zu Essen, Unterhaltung und Fröhlichkeit ein. Unter dem Leuchten der elbischen Gesichter und dem Klang ihrer
schönen Stimmen vergessen die Hobbits die Gefahr.
Auf diese Weise geht von Tolkiens Schöpfungen ein Zauber aus, der schon lange vorher mit der keltischen Welt verbunden wurde.
Dass diese magische Wirkung weniger mit den Kelten als mit unseren Wünschen und Sehnsüchten zu tun hat, erkannte der poetische
Professor selbst. Denn in jüngeren Jahren äußerte er den Wunsch, sein Werk solle »die helle, entrückte Schönheit besitzen
…, die manche ›keltisch‹ nennen (obwohl sie sich in echten altkeltischen Dingen nur selten findet).«
|241| Die keltischen Surrealisten
Die keltische Kultur erweist sich nicht nur als eine geradezu unverzichtbare Hauptquelle der Fantasyliteratur und des entspechenden
Films. Zahlreiche Stimmen vertreten darüber hinaus die Ansicht, die Kelten seien mit ihrer so bezeichnenden wie eigenartigen
La Tène-Kunst frühe Vorläufer der modernen Malerei gewesen. Und sie verdienten das Prädikat der gleichsam ersten Surrealisten.
In der Tat verstießen sie gegen alle Regeln der klassischen Kunst, wie sie die Griechen schufen und wie sie als vorbildliches
Ideal über weit mehr als 2 000 Jahre in Europa ästhetische Normen vorgab. Die Kelten mussten den Hellenen und Römern auch
in solchen Fragen als abstoßende Barbaren erscheinen: Nichts fand sich in den Werken ihrer Feinschmiede, etwa den Fibeln,
Kannen und Statuetten, von der stillen Erhabenheit und Würde griechischer Statuen, nichts vom idealisierenden Realismus athenischer
Götterdarstellungen und nichts von den Tugenden des Gleichmaßes und der Ausgewogenheit. Darum hätten die Vertreter der deutschen
Klassik wie Johann Joachim Winckelmann, Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller ihr epochales Motto von der »edlen
Einfalt und der stillen Größe« der antiken Kunstwerke niemals auf die der Kelten angewendet.
Deren Darstellungen verlassen die Welt der Wirklichkeit mit ihren festen Gesetzmäßigkeiten der Natur und Logik. Die kleinformatige
Kunst der La Tène-Zeit verliert sich mit ihren Ornamenten und Figuren in einer diffusen Traumwelt, in der das Überwirkliche
und Irrationale zu herrschen scheinen. Die Kelten selbst begriffen die Zeichen und Symbole, die dem modernen Interpreten voller
Rätsel sind und ihn an die Geheimnisse des Unbewussten gemahnen.
Deshalb erinnern ihn die überschwellenden Pflanzenmotive und die fremdartigen Fabelwesen an fantastische Elemente der abendländischen
Kunst. Dort finden sie sich im Skulpturenschmuck der gotischen Kathedralen ebenso wie in den
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