Die Welt der Kelten
das alte Ägypten, Mesopotamien
oder Rom repräsentierten. Denn im Unterschied zu diesen kannten sie weder Steinarchitektur noch deren monumentale Anlagen
und ganze Städte, die die Zentren jener Reiche darstellten. Die keltische Gesellschaft basierte immer noch auf den bäuerlichen
Grundlagen ihrer Vorfahren und wies etwa keinen ausgefeilten Beamtenapparat auf. Einem Besucher aus Rom oder Marseille mussten
selbst die stadtähnlichen Oppida der Gallier einfach und primitiv erscheinen.
Doch dieser Eindruck wurde der keltischen Kultur und ihrer Geschichte nicht gerecht. In Wahrheit befand sie sich auf dem Weg
von einer so genannten antiken Randkultur zu einer Hochkultur nach dem Vorbild Roms. Deren Status sollte sie nie erreichen,
aber für unterentwickeltere Nachbarn wie die Germanen war sie eine reiche Zivilisation mit beneidenswerten Lebensbedingungen.
Die frühgeschichtlichen Keltenstämme des Festlandes lebten in einer Jahrhunderte währenden Zeit des Übergangs, in der ihre
Kultur die unterschiedlichsten Verbindungen zwischen Alt und Neu, archaischen und innovativen Elementen einging. Wie eine
keltische Hochkultur ausgesehen hätte, ist ungewiss. Die gallischen Stämme zwischen Atlantik und Rhein befanden sich im 1.
Jahrhundert vor Chr. auf dem kürzesten Weg dorthin. Caesars Legionen jedoch verwehrten ihnen dieses Ziel. Dabei ist von besonderer
Tragik, dass den römischen Eroberern das nutzte, was die entwickelte Zivilisation Galliens ausmachte: Sie marschierten auf
den Wegen eines erschlossenen Landes, das man beherrschte, wenn man dessen Städte einnahm. So endete die Geschichte der keltischen
Kultur auf dem europäischen Festland.
Von der Vorzeit in die Gegenwart
Obwohl die meisten Kelten unter römische Herrschaft gerieten und in großem Maß romanisiert wurden, war dies nicht das völlige
Ende ihrer Geschichte und Kultur. Denn am westlichen Rand Europas bestanden die erwähnten keltisch geprägten Gemeinschaften
fort – die Iren, Waliser, Schotten und Bretonen. Sie bewahrten sich bis ins Mittelalter ihre Unabhängigkeit |23| und darüber hinaus gewisse Eigenarten bis in die frühe Neuzeit. Zwar wäre es ohne Zweifel falsch, diese späten inselkeltischen
Kulturen mit der alten des Festlandes gleichzusetzen. Doch vor allem in Irland, das niemals von Rom besetzt worden war, hielten
sich altertümliche Elemente noch viele Jahrhunderte – die Gliederung in zahlreiche Stämme, das keltische Kriegerideal, die
Vorliebe für die Kopfjagd und anderes mehr.
So manches davon wurde vom Christentum toleriert und fand seinen Niederschlag in den Heldenerzählungen, die während des Mittelalters
niedergeschrieben wurden. Die Waliser und Bretonen schufen sich mit den Geschichten um den sagenhaften König Arthur und den
Zauberer Merlin einen literarischen Stoff, der eine Vielzahl keltischer Motive enthielt und populär machte. Spätestens mit
der Romantik kam die Wiederentdeckung dieser Dichtungen, die die Aufmerksamkeit auf die keltische Kultur lenkten. Die Namen
und Mythen der Inselkelten spricht man seitdem der sprach-, weil schriftlosen Mythologie der Gallier und anderer Stämme zu.
In vielen Fällen ist dieses Vorgehen zweifelhaft und von manchen Wissenschaftlern wird es rundherum abgelehnt, weil sich in
Irland und den anderen inselkeltischen Gebieten eine ganz unterschiedliche Kultur entwickelt hätte.
Andererseits bleibt festzustellen, dass sich in jenen Gebieten keltische Sprachen erhalten haben und mit ihnen Geschichten
von Göttern und Helden, die zumindest teilweise ihre gallischen Entsprechungen finden. Bei allen Vorbehalten erstreckt sich
damit die Kultur der Kelten von der Vorzeit bis in die Gegenwart. Denn in den Gebieten am Atlantik bezeichnen sich moderne
Menschen zu Recht als Kelten. Mehr als zweieinhalb Jahrtausende trennen sie von den Anfängen der frühgeschichtlichen Kultur,
die auch mit diesem Namen verbunden wird. Und trotzdem glaubt man, Ähnlichkeiten feststellen und Parallelen ziehen zu können.
Darin drückt sich eine außerordentliche Besonderheit der keltischen Geschichte aus. Denn andere historische Völker Europas
können eine derartige Kontinuität nicht aufweisen. So ist zwar das römische Erbe in vielfältiger Form präsent – sei es in
der lateinischen Sprache oder in der klassizistischen Architektur –, aber als Römer würde sich heute kein Italiener außerhalb
der Hauptstadt bezeichnen. Und die germanischen Sprachen
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