Die Welt ohne uns
sammelt, bildet sich eine Erdschicht auf New Yorks unfruchtbarem Boden und gibt weiteren Sämlingen Nahrung. Mit weit weniger organischem Material – lediglich verwehtem Staub und städtischem Ruß – ist genau das mit einer eisernen Hochtrasse der New Yorker Central Railroad auf Manhattans West Side passiert. Seit dort 1980 der Zugverkehr eingestellt wurde, hat sich neben dem unvermeidlichen Götterbaum eine immer dickere Schicht aus Scheinkrokussen und flaumigem Wollziest angesiedelt, hier und da durch Büschel von Goldrute unterbrochen. An einigen Stellen führen die Gleise aus dem ersten Stock von Lagerhäusern, die einst von der Bahn bedient wurden, in hochgelegene Beete mit wilden Krokussen, Schwertlilien, Nachtkerzen, Astern und Wilden Möhren. Viele New Yorker waren von dem Blick aus den Fenstern von Chelseas Kunstviertel auf diesen wild wachsenden, blühenden Grünstreifen, der so rasch und nachdrücklich auf einen toten Winkel ihrer Stadt Anspruch erhob, so begeistert, dass man ihn The High Line nannte und offiziell zum Park erklärte.
In den ersten Jahren ohne Heizung platzen überall in der Stadt die Rohre, der Frost-Tauwetter-Zyklus dringt in die Gebäude ein. Die Situation verschlechtert sich nun rapide. Gebäude ächzen, während sich ihre Kerne ausdehnen und zusammenziehen; die Verbindungen zwischen Wänden und Dächern lösen sich. Wo das der Fall ist, sickert Regen ein, rosten Bolzen und fällt der Verputz von der Wand, sodass die Isolierungen freiliegen. Falls die Stadt bisher noch nicht brannte, wird sie jetzt Feuer fangen. Insgesamt ist New Yorks Architektur nicht so feueranfällig wie etwa San Franciscos Häuserzeilen mit den viktorianischen Holzfassaden, die wie Zunder brennen. Doch ohne Feuerwehr, die auf einen Alarm reagiert, kann ein einziger Blitzschlag das in Jahrzehnten angehäufte tote Geäst und Laub im Central Park entzünden und einen Brand entfachen, der die Glut rasch in die Straßen trägt. Binnen zweier Jahrzehnte sind die Blitzableiter verrostet und gerissen, die Flammen brennender Dächer greifen von Gebäude zu Gebäude über und dringen in holzgetäfelte Büros ein, wo sie reichlich Nahrung vorfinden. Gasleitungen entzünden sich explosionsartig und lassen die Fensterscheiben zerspringen. Regen und Schnee wehen herein und schon bald beginnen die Estrichböden zu gefrieren, zu tauen und sich zu verwerfen. Verbrannte Isolierungen und verkohltes Holz tragen Nährstoffe in Manhattans wachsende Erdschicht ein. Einheimische Gewächse wie Wilder Wein und Giftefeu ranken sich an Mauern empor, wo sich nach dem Ende der Luftverschmutzung rasch Flechten ausbreiten. In den Wolkenkratzern, von denen fast nur noch die Skelette stehen, nisten Rotschwanzbussarde und Wanderfalken.
Nach zweihundert Jahren, so schätzt Steven Clemants, stellvertretender Direktor des Brooklyn Botanical Garden, werden Baumgruppen die Pionierpflanzen weitgehend verdrängt haben. Rinnsteine, die unter Tonnen von altem Laub begraben liegen, bieten einheimischen Eichen und Ahornbäumen aus den Stadtparks fruchtbaren Boden. Neu hinzukommende Robinien und Schirm-Ölweiden binden Stickstoff und bereiten damit den Weg für Sonnenblumen, Bartgras und Wasserdost sowie für Apfelbäume, deren Samen von der rasch wachsenden Vogelpopulation verbreitet werden.
Die Artenvielfalt werde noch zunehmen, prophezeit der schon erwähnte Jameel Ahmad vom Cooper Union College, wenn die Gebäude endgültig ihre Stabilität verlieren, ineinanderstürzen und der Kalk aus zermalmtem Beton den pH-Wert des Bodens erhöht, was günstige Voraussetzungen für Bäume wie Kreuzdorn und Birke schafft. Ahmad, ein lebhafter, weißhaariger Mann, dessen Hände seine Worte ausdrucksvoll unterstreichen, ist der Meinung, dass dieser Prozess rascher einsetzen wird, als wir annehmen. Ahmad lehrt, wie sich Gebäude so erbauen oder umrüsten lassen, dass sie Terroranschlägen standhalten, eine Tätigkeit, der er eingehende Kenntnisse über die Schwachstellen unserer Bauwerke verdankt.
»Sogar Gebäude, die tief im harten Schiefer Manhattans verankert sind, wie die meisten New Yorker Wolkenkratzer«, erläutert er, »sind nicht dafür ausgelegt, mit ihren Stahlfundamenten im Wasser zu stehen.« Verstopften Gullys, überschwemmten Tunneln und Straßen, die sich in Flüsse verwandelten, werde es in gemeinsamer Anstrengung gelingen, so Ahmad, die tiefer liegenden Kellergeschosse zu unterhöhlen und ihre Riesenlast ins Wanken zu bringen. In einer Zukunft, die
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