Die Welt ohne uns
sich Quellen. Einige kleine haben sich einen Weg gebahnt. Wenn klares Wasser austritt, ist alles in Ordnung. Klares Wasser heißt, dass es aus dem Grundgestein kommt.« Huff schiebt seinen Stuhl zurück und reibt sich den dunklen Kinnbart. »Doch wenn Schmutzwasser kommt, ist Gefahr im Verzug. Das ist dann unter Umständen eine Frage von wenigen Stunden.«
Schwer vorstellbar. Der Gatun-Damm hat einen 360 Meter dicken, theoretisch undurchdringlichen Kern aus Steinen und Kies, zwischen denen eine flüssige Lehmmasse, sogenanntes Feingut, als Kitt wirkt. Das Ganze wurde aus dem tiefer liegenden Kanal hoch gespült und zwischen zwei eingegrabenen Steinwänden festgestampft.
»Das Feingut hält den Kies und alles andere zusammen. Zuerst wird das Feingut rausgespült. Dann folgt der Kies und der Damm verliert seinen Zusammenhalt.«
Huff holt eine Kartenrolle aus einem Schreibtisch. Nachdem er eine vergilbte laminierte Karte der Landenge entrollt hat, deutet er auf den Gatun-Damm, der nur zehn Kilometer vom Karibischen Meer entfernt ist. In der Wirklichkeit ist der Damm eindrucksvolle zweieinhalb Kilometer lang, doch auf der Karte schließt er nur eine schmale Lücke im Vergleich zu der enormen Wasserfläche, die sich hinter ihm staut.
Die Hydrologen Cuevas und Echevers hätten recht, sagt er. »Wenn nicht schon während der ersten Regenzeit, so ist es doch in wenigen Jahren um den Madden-Damm geschehen. Dann ergießt sich dieser See in den Gatunsee.«
Daraufhin fließt der Gatunsee zu beiden Seiten über die Schleusen, in Richtung Atlantik und Pazifik. Eine Zeitlang bemerkt ein unbefangener Beobachter nichts Auffälliges, »höchstens, dass das Gras nicht mehr gemäht wird«. Die Grünanlagen zu beiden Seiten des Kanals, die noch immer nach Maßgabe des amerikanischen Militärs gepflegt werden, sähen dann arg vernachlässigt aus. Doch bevor sich Palmen oder Feigenbäume ansiedeln könnten, wäre das Gebiet überschwemmt.
»Große Flutwellen strömen an den Schleusen vorbei und graben neue Flussbetten in die Erde. Sobald eine der Schleusenwände nachgibt, ist alles vorbei. Der ganze Gatunsee kann auslaufen.« Er hält inne. »Wenn er sich nicht schon lange vorher ins Karibische Meer ergossen hat. Ich kann mir nicht vorstellen, dass nach zwanzig Jahren ohne Wartung noch ein einziger Erdwall vorhanden ist. Schon gar nicht der Gatun-Damm.«
Dann sucht sich der befreite Chagres River, der viele französische und amerikanische Ingenieure in den Wahnsinn und Tausende von Arbeitern in den Tod trieb, seinen alten Weg ins Meer. Sobald die Dämme fortgerissen und die Seen leer sind und der Fluss wieder nach Osten fließt, trocknet die pazifische Seite des Panamakanals aus und die beiden Halbkontinente sind wieder vereinigt.
Zuletzt geschah das vor drei Millionen Jahren: Als die nordund südamerikanischen Tierarten über die zentralamerikanische Landbrücke wanderten, welche die beiden Kontinente jetzt verband, begann einer der umfassendsten biologischen Austauschprozesse der Erdgeschichte.
Bis dahin waren die beiden Landmassen getrennt, nachdem der Urkontinent Pangäa 200 Millionen Jahre zuvor auseinandergebrochen war. Während dieser Zeitspanne hatten die beiden getrennten Amerikas gänzlich verschiedene evolutionäre Wege beschritten. Wie Australien entwickelte Südamerika Beuteltiere in großer Artenvielfalt, von Faultieren bis hin zu einer Löwenspezies, die ihre Jungen im Beutel trug. In Nordamerika entschied sich die Evolution für den effizienteren und letztlich erfolgreicheren Weg der Plazenta.
Diese jüngste, vom Menschen geschaffene Trennung besteht nun seit gut hundert Jahren – nicht genug Zeit für eine erkennbare Artenevolution; außerdem kann ein Kanal, der kaum so breit ist, dass zwei Schiffe aneinander vorbeikommen, schwerlich ein echtes Hindernis sein. Bis Wurzeln in die Risse jener riesigen, leeren Betonkästen, die einst Seeschiffe aufnahmen, eingedrungen sind und sie zum Einsturz gebracht haben, werden sie, so vermutet Bill Huff, noch einige Jahrhunderte lang das Regenwasser auffangen und von Panthern und Jaguaren umschlichen werden, weil die sich wieder kräftig vermehrenden Tapire, Virginiahirsche und Ameisenbären dort zur Tränke kommen.
Noch länger als diese Kästen wird eine künstliche, V-förmige Furche bleiben und die Stelle kennzeichnen, wo die Menschheit, wie Theodore Roosevelt sagte, als er 1906 den Kanal persönlich in Augenschein nahm, »die bedeutendste technische Großtat aller
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