Die Welt ohne uns
Es gibt noch rund 1500 Exemplare dieser Art und jeder neue Jungvogel ist ein Ereignis.
Unbeeindruckt schweben die Kraniche an der Drohkulisse vorbei, landen auf den sonnigen Flecken zu beiden Seiten der Demarkationslinie und tun sich am Riedgras gütlich. Keiner der Männer hier, die sich über den Anblick dieser majestätischen Vögel freuen, würde ein Wort gegen den Frieden sagen, Tatsache aber ist, dass diese Vögel, würde die schwelende Feindschaft nicht für den Fortbestand dieser Zone sorgen, vermutlich kurz vor dem Aussterben stünden. Nur wenige Kilometer ostwärts breiten sich die Vororte von Seoul – einem Moloch, der sich der 20-Millionen-Grenze nähert – immer weiter nach Norden aus und stoßen bereits an die Zivile Kontrollzone. Sämtliche Immobilienmakler der Stadt hocken längst in den Startlöchern, um dieses verlockende Areal in Besitz zu nehmen, sobald der Stacheldraht niedergerissen wird.
Eine Stunde lang beobachten die Umweltschützer die herrlichen, fast anderthalb Meter großen Vögel in ihrer natürlichen Umgebung. Während der ganzen Zeit werden sie von bewaffneten Grenzsoldaten überwacht. Einer tritt näher, um ihr 40-fach vergrößerndes Fernrohr auf einem Dreibeinstativ zu inspizieren. Sie zeigen ihm die Kraniche. Als er hindurchblickt, wandern die dunklen Nachmittagsschatten über die kahlen Berge Nordkoreas. Ein Sonnenstrahl fällt wie ein Speer auf einen weißen, von Granateinschlägen zernarbten Bergrücken, der aus der DMZ emporragt. Der Soldat erzählt uns, wie viele Helden bei seiner Verteidigung fielen und dass noch mehr Männer des verhassten Feindes ihr Leben ließen.
»Von allen Streitigkeiten zwischen Nord- und Südkorea abgesehen, solltet ihr den Touristen, die die DMZ besuchen, auch von diesem gemeinsamen Ökosystem erzählen«, erwidert Ma Yong-Un. Er zeigt auf einen Wasserbock, der den grasbedeckten Abhang erklimmt. »Eines Tages, wenn unser Land wiedervereinigt ist, wird es immer noch gute Gründe geben, diese Zone zu schützen.«
Wir kehren durch ein langes, flaches Tal der Zivilen Kontrollzone zurück, das mit Reisstoppeln bedeckt ist. Die Ackerfurchen bilden ein Fischgrätmuster, unterbrochen von den glitzernden Wasserlachen einer frühen Schneeschmelze, die über Nacht wieder zufrieren werden. Der Himmel scheint das Muster des Bodens widerzuspiegeln: lange Linien einschwebender Kraniche, in die sich die Keilformationen Tausender von Gänse mischen.
Als die Vögel sich niederlassen, um von den Resten der Reisernte zu fressen, machen die Umweltschützer halt, um ein paar Fotos zu schießen und eine rasche Zählung vorzunehmen: 35 Mandschurenkraniche, wie von japanischen Seidenbildern: blendend weiß, mit roten Kappen und schwarzen Hälsen, 95 Weißnackenkraniche mit rosa Beinen, außerdem drei Gänsearten: Magellan-, Saat- und einige seltene gefleckte Schneegänse, alles Arten, für die in Südkorea Jagdverbot gilt und die daher so zahlreich sind, dass niemand sich die Mühe macht, sie zu zählen.
So aufregend es ist, die Kraniche in den neu entstandenen Feuchtgebieten der DMZ zu beobachten, ist es doch leichter auf diesen benachbarten Reisfeldern, wo sie sich an die Körner halten, die beim maschinellen Ernten übrig blieben. Würde diesen Vögeln das Verschwinden der Menschheit nützen oder schaden? Evolutionär betrachtet, sind Riedschößlinge die angestammte Nahrung von Mandschurenkranichen, doch inzwischen haben Tausende von Kranichgenerationen ihre Nahrung in den von Menschen bestellten feuchten Reisfeldern gefunden. Werden die Kranich- und Gänsepopulationen zurückgehen, wenn es keine Bauern mehr gibt und auch die fruchtbaren Reisfelder der Zivilen Kontrollzone wieder zu Sümpfen werden?
»Ein Reisfeld ist gar kein ideales Ökosystem für diese Kraniche«, erläutert Kyung-Won und blickt von seinem Fernrohr auf. »Sie brauchen nicht nur Körner, sondern auch Wurzeln. Aber zu viele Feuchtgebiete sind in Agrarland verwandelt worden, daher bleibt ihnen keine andere Wahl, als Reis zu fressen, um den Winter zu überleben.«
In den brachliegenden Reisfeldern ist noch nicht genügend Ried- und Kanariengras nachgewachsen, um selbst diese dezimierten Populationen zu ernähren, denn Nordwie Südkorea haben flussauf Staudämme gebaut. »Sogar im Winter, wenn der Schneefall den Grundwasserspiegel eigentlich wieder steigen lassen müsste, pumpt man Wasser in die Treibhäuser, um das Gemüse zu bewässern«, sagt Kyung-Won.
Gäbe es keine Landwirtschaft, die
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