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Die Welt ohne uns

Die Welt ohne uns

Titel: Die Welt ohne uns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alan Weisman
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liegt und Zivile Kontrollzone heißt. Seit fünfzig Jahren lebt fast niemand mehr in dieser Zone, allerdings dürfen Bauern hier Reis und Ginseng anbauen. Nach fünf Kilometern ungepflasterter Straße, links und rechts von Stacheldraht gesäumt, in dem Turteltauben sitzen und rote Dreiecke hängen, die vor weiteren Minenfeldern warnen, erreichen sie ein Schild, das auf Koreanisch und Englisch mitteilt, dass sie nun in die Demilitarisierte Zone fahren.
    Diese sogenannte DMZ ist 240 Kilometer lang und vier Kilometer breit und seit dem 6. September 1953 praktisch eine Welt ohne Menschen.
    Der kommunistisch geführte Norden fiel 1950 in den Südteil des Landes ein, um eine Vereinigung des nach dem Zweiten Weltkrieg geteilten Landes zu erzwingen, wurde aber mithilfe von Truppen der Vereinten Nationen zurückgedrängt; 1953 besiegelte ein Waffenstillstand die Pattsituation an der ursprünglichen Trennungslinie, dem 38. Breitengrad. Ein zwei Kilometer breiter Streifen zu beiden Seiten wurde das Niemandsland, das heute Demilitarisierte Zone heißt.
    Ein Großteil der DMZ verläuft durch Gebirge. So weit sie Wasserläufen folgt, führt die Demarkationslinie durch fruchtbares Schwemmland, wo die Menschen seit 5000 Jahren Reis anbauten. Ihre verlassenen Reisfelder sind seit Beginn der Feindseligkeiten dicht mit Landminen gepflastert. Seit dem Waffenstillstand im Jahr 1953 hat, von Militärpatrouillen und verzweifelten nordkoreanischen Flüchtlingen abgesehen, kaum jemals ein Mensch seinen Fuß auf diesen Boden gesetzt.
    In Abwesenheit der Menschen hat sich das Niemandsland zwischen den verfeindeten Staaten mit Geschöpfen gefüllt, die praktisch keinen anderen Zufluchtsort mehr haben. So wurde eine der gefährlichsten Regionen der Welt unversehens zu einem der wichtigsten Zufluchtsgebiete für gefährdete Tierarten wie den Schwarzen Kragenbären, den Eurasischen Luchs und den Moschushirsch. Auch wenn sie hier nur vorübergehend Schutz finden – das Gebiet ist viel zu klein, um genetisch gesunden Populationen dieser Arten genügend Platz zu bieten.
    Die Umweltschützer kommen zu einem befestigten Beobachtungsbunker, wo der 240 Kilometer lange Doppelzaun, gekrönt mit Stacheldraht, einen scharfen Knick nach Norden macht und etwa einen Kilometer weit einem Vorgebirge folgt, bevor er wieder einwärts schwenkt. Am Nordrand des Vorgebirges geht die DMZ in eine öde, zerklüftete Felslandschaft über, die sich in beide Richtungen kilometerweit erstreckt. Obwohl seit 1953 auf beiden Seiten die Waffen schweigen, beschallen große Lautsprecher diesseits und jenseits der Demarkationslinie den Feind regelmäßig mit kommunistischen Parolen und Militärmusik respektive westlicher Popmusik oder einfach dem Radioprogramm aus Seoul. Die nordkoreanischen Berghänge, die man vom waldigen Süden aus sehen kann, sind im Laufe der Jahre nicht nur hier für Feuerholz vollständig kahlgeschlagen worden. Die unvermeidliche Erosion hat zu tragischen Überschwemmungen, katastrophalen Missernten und Hungersnöten geführt. Wäre die gesamte Halbinsel eines Tages menschenleer, würde die Nordhälfte sicherlich weit länger brauchen, um sich biologisch zu erholen.
    Unten, in der Pufferzone, die diese extremen Gegensätze trennt, haben sich die alten Reisfelder im Laufe des letzten halben Jahrhunderts in Feuchtgebiete verwandelt. Kaum haben die koreanischen Naturschützer ihre Kameras und Ferngläser in Stellung gebracht, gleitet ein blendend weißer Schwärm von elf Vögeln in vollkommener Formation über die hohen Binsen hinweg.
    Das Ganze geschieht in vollkommener Stille. Es sind die lebenden Nationalembleme Koreas: Mandschurenkraniche – die größte und, nach den Schrei-Kranichen, seltenste Art dieser Vogelfamilie. Sie befinden sich in Begleitung von vier kleineren, ebenfalls gefährdeten Weißnacken-Kranichen. Aus China und Sibirien kommend, überwintern die meisten in der DMZ. Ohne diese gäbe es die Kraniche hier wahrscheinlich auch nicht.
    Federleicht setzen sie auf, sodass sie keinen der vergrabenen Zünder auslösen. Die Mandschurenkraniche, die in Asien als Glücks- und Friedensbringer verehrt werden, sind ahnungslose Grenzgänger dieser waffenstarrenden Demarkationslinie, die so zu einem Schutzgebiet für seltene Tierarten wurde.
    »Babys«, flüstert Kyung-Won, das Fernglas auf zwei junge Kraniche gerichtet, die in einem Bachbett waten, deren lange Schnäbel unter Wasser nach Nahrung suchen und deren Kronen noch das jugendliche Braun zeigen.

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