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Die Welt von Gestern

Die Welt von Gestern

Titel: Die Welt von Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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seines eigenen Könnens an, die er mit einer fast unheimlichen Klarheit übersah. Mir sind viele große Künstler in meinem Leben begegnet; nie aber einer, der so abstrakt und unbeirrbar Objektivität gegen sich selber zu bewahren wußte. So bekannte Strauss mir freimütig gleich in der ersten Stunde, er wisse wohl, daß ein Musiker mit siebzig Jahren nicht mehr die ursprüngliche Kraft der musikalischen Inspiration besitze. Symphonische Werke wie ›Till Eulenspiegel‹ oder ›Tod und Verklärung‹ würden ihm kaum mehr gelingen, denn gerade die reine Musik bedürfe eines Höchstmaßes von schöpferischer Frische. Aber das Wort inspiriere ihn noch immer. Ein Vorhandenes, eine schon geformte Substanz vermöge er noch dramatisch voll zu illustrieren, weil aus Situationen und Worten sich ihm musikalische Themen spontan entwickelten, und darum habe er sich jetzt, in seinen späteren Jahren, ausschließlich der Oper zugewandt. Er wisse wohl, daß es mit der Oper als Kunstform eigentlich vorbei sei. Wagner sei ein so ungeheurer Gipfel, daß niemand über ihn hinauskommen könne. »Aber«, fügte er mit einem breiten bajuwarischen Lachen bei, »ich habe mir geholfen, indem ich einen Umweg um ihn gemacht habe.«
    Nachdem wir uns über die Grundlinien klar geworden, gab er mir noch einige kleine Instruktionen. Er wolle mir absolute Freiheit lassen, denn ihn inspiriere niemals ein schon im voraus zugeschneiderter Operntext im Verdischen Sinne, sondern immer nur eine dichterische Arbeit. Nur wäre ihm lieb, wenn ich ein paar komplizierte Formen einbauen könnte, die der Koloristik besondere Entwicklungsmöglichkeiten geben würden. »Mir fallen keine langen Melodien ein wie dem Mozart. Ich bringe es immer nur zu kurzen Themen. Aber was ich verstehe, ist dann so ein Thema zu wenden, zu paraphrasieren, aus ihm
alles herauszuholen, was drinnen steckt, und ich glaube, das macht mir heute keiner nach.« Wieder war ich verblüfft über diese Offenheit, denn wirklich findet sich bei Strauss kaum je eine Melodie, die über ein paar Takte hinausreicht; aber wie sind dann diese wenigen Takte – etwa des Rosenkavalierwalzers – gesteigert und fugiert zu einer vollkommenen Fülle!
    Ebenso wie bei dieser ersten Begegnung war ich bei jeder neuen immer wieder voll Bewunderung, mit welcher Sicherheit und Sachlichkeit dieser alte Meister sich selbst in seinem Werke gegenüberstand. Einmal saß ich mit ihm allein bei einer geschlossenen Probe seiner ›Ägyptischen Helena‹ im Salzburger Festspielhaus. Niemand anderer war im Raum, es war vollkommen dunkel um uns. Er hörte zu. Auf einmal merkte ich, daß er leise und ungeduldig mit den Fingern auf der Stuhllehne trommelte. Dann flüsterte er mir zu: »Schlecht! Ganz schlecht! Da ist mir gar nichts eingefallen.« Und nach einigen Minuten wieder: »Wenn ich das nur streichen könnte! O Gott, o Gott, das ist ganz leer und zu lang, viel zu lang!« und wieder nach ein paar Minuten: »Sehen S', das ist gut!« Er beurteilte sein eigenes Werk so sachlich und unbeteiligt, als ob er diese Musik zum ersten Male höre und als ob sie von einem ganz wildfremden Komponisten geschrieben sei, und dieses erstaunliche Gefühl für sein eigenes Maß verließ ihn niemals. Immer wußte er genau, wer er war und wieviel er konnte. Wie wenig oder wieviel die andern im Vergleich zu ihm bedeuteten, interessierte ihn nicht sehr und ebensowenig, wieviel er den anderen galt. Was ihn freute, war die Arbeit selbst.
    Dieses ›Arbeiten‹ ist bei Strauss ein ganz merkwürdiger Prozeß. Nichts vom Dämonischen, nichts von dem ›Raptus‹ des Künstlers, nichts von jenen Depressionen und Desperationen, wie man sie aus Beethovens, aus Wagners Lebensbeschreibungen kennt. Strauss arbeitet sachlich und kühl, er komponiert –
wie Johann Sebastian Bach, wie alle diese sublimen Handwerker ihrer Kunst – ruhig und regelmäßig. Um neun Uhr morgens setzt er sich an seinen Tisch und führt genau an der Stelle die Arbeit fort, wo er gestern zu komponieren aufgehört, regelmäßig mit Bleistift die erste Skizze schreibend, mit Tinte die Klavierpartitur, und so pausenlos weiter bis zwölf oder ein Uhr. Nachmittags spielt er Skat, überträgt zwei, drei Seiten in die Partitur und dirigiert allenfalls abends im Theater. Jede Art von Nervosität ist ihm fremd, bei Tag und bei Nacht ist sein Kunstintellekt immer gleich hell und klar. Wenn der Diener an die Tür klopft, um ihm den Frack zu bringen zum Dirigieren, steht er auf von der

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