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Die Welt von Gestern

Die Welt von Gestern

Titel: Die Welt von Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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kennen, war für ihn Leidenschaft, fast die einzige, die ich je an ihm wahrgenommen. Einmal, als wir uns bei gemeinsamen Freunden begegneten, erzählte ich ihm, ich sei gestern durch Zufall an die alte ›Barrière‹ gelangt, wo am Cimetière de Picpus die letzten Opfer der Guillotine eingescharrt worden waren, unter ihnen André Chenier; ich beschrieb ihm diese kleine rührende Wiese mit ihren verstreuten Gräbern, die selten Fremde sieht, und wie ich dann auf dem Rückweg in einer der Straßen durch eine offene Tür ein Kloster mit einer Art Beginen erblickt, die still, ohne zu sprechen, den Rosenkranz in der Hand, wie in einem frommen Traum im Kreis gewandelt. Es war eines der wenigen Male, wo ich ihn beinahe ungeduldig sah, diesen so leisen, beherrschten Mann: er müsse das sehen, das Grab André Cheniers und das Kloster. Ob ich ihn hinführen wolle. Wir gingen gleich am nächsten Tage. Er stand in einer Art verzückter Stille vor diesem einsamen Friedhof und nannte ihn ›den lyrischsten von Paris‹. Aber auf dem Rückweg erwies sich die Tür jenes Klosters als verschlossen. Da konnte ich nun seine stille Geduld erproben, die er im Leben nicht minder als in seinen Werken meisterte. »Warten wir auf den Zufall«, sagte er. Und mit leicht gesenktem Haupt stellte er sich so, daß er durch die Pforte schauen konnte, wenn sie sich öffnete. Wir warteten vielleicht zwanzig Minuten. Dann kam die Straße entlang eine Ordensschwester und klingelte. »Jetzt«, hauchte er leise und erregt. Aber die Schwester hatte sein stilles Lauschen bemerkt – ich sagte ja, daß man alles an ihm von ferne atmosphärisch fühlte –, trat auf ihn zu und fragte, ob er jemanden erwarte. Er lächelte sie an mit diesem seinem weichen Lächeln, das sofort Zutrauen schuf, und sagte offenherzig, er hätte so gerne den Klostergang gesehen. Es tue ihr leid, lächelte nun ihrerseits die Schwester, aber sie dürfe ihn nicht einlassen. Jedoch riet sie ihm, zum Häuschen des Gärtners
nebenan zu gehen, von dessen Fenster im Oberstock habe er einen guten Blick. Und so ward auch dies ihm wie so vieles gegeben.
    Mehrmals haben sich noch unsere Wege gekreuzt, aber wann immer ich an Rilke denke, sehe ich ihn in Paris, dessen traurigste Stunde zu erleben ihm erspart geblieben ist.

    Menschen dieser seltenen Art waren ein großer Gewinn für einen Beginnenden; aber die entscheidende Lehre hatte ich noch zu empfangen, eine, die für das ganze Leben gelten sollte. Sie war ein Geschenk des Zufalls. Bei Verhaeren waren wir in eine Diskussion mit einem Kunsthistoriker gekommen, der klagte, die Zeit der großen Plastik und Malerei sei vorüber. Ich widersprach heftig. Sei nicht Rodin noch unter uns, nicht geringer als Gestalter als die Großen der Vergangenheit? Ich begann seine Werke aufzuzählen und geriet wie immer, wenn man gegen einen Widerspruch kämpft, in fast zornigen Schwung. Verhaeren lächelte in sich hinein. »Jemand, der Rodin so liebt, sollte ihn eigentlich kennenlernen«, sagte er am Ende. »Morgen bin ich in seinem Atelier. Wenn es dir recht ist, nehme ich dich mit.«
    Ob es mir recht war? Ich konnte nicht schlafen vor Freude. Aber bei Rodin stockte mir die Rede. Ich vermochte nicht einmal das Wort an ihn zu richten und stand zwischen den Statuen wie eine von ihnen. Sonderbarerweise schien ihm diese meine Verlegenheit zu gefallen, denn beim Abschied lud der alte Mann mich ein, ob ich nicht sein eigentliches Atelier in Meudon sehen wollte, und bat mich sogar zu Tisch. Die erste Lehre war gegeben: daß die großen Männer immer die gütigsten sind.
    Die zweite war, daß sie fast immer in ihrem Leben die einfachsten sind. Bei diesem Manne, dessen Ruhm die Welt erfüll
te, dessen Werke unserer Generation Linie um Linie gegenwärtig waren wie die nächsten Freunde, aß man so simpel wie bei einem mittleren Bauern; ein gutes, kräftiges Fleisch, ein paar Oliven und fülliges Obst, dazu kräftigen Landwein. Das gab mir mehr Mut, zum Schluß sprach ich schon wieder unbefangen, als wären dieser alte Mann und seine Frau mir seit Jahren vertraut.
    Nach Tisch gingen wir hinüber in das Atelier. Es war ein mächtiger Saal, der die wesentlichsten seiner Werke in Repliken vereinigte, dazwischen aber standen und lagen zu Hunderten köstliche kleine Einzelstudien – eine Hand, ein Arm, eine Pferdemähne, ein Frauenohr, meist nur in Gips geformt; ich habe heute noch genau manche dieser von ihm nur zur eigenen Übung gestalteten Skizzen in der Erinnerung und

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