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Die Welt von Gestern

Die Welt von Gestern

Titel: Die Welt von Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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abwechselnd mit seiner Frau in der winzigen Portiersloge saß, ein kleiner, feister, rotwangiger Marseiller, mit dem ich oft heiter gespaßt und sogar manchmal im gegenüberliegenden Café Trick-Track, sein Lieblingsspiel, gespielt hatte. Er wurde sofort furchtbar aufgeregt und schrie erbittert, während er mit der Faust auf den Tisch hieb, die geheimnisvollen Worte: »Also doch!« Noch in
des er sich – er hatte wie immer in Hemdsärmeln gesessen – hastig den Rock anzog und Schuhe statt seiner bequemen Pantoffeln, erklärte er mir die Sachlage, und vielleicht ist es nötig, zuerst an eine Sonderheit der Pariser Häuser und Hotels zu erinnern, um sie verständlich zu machen. In Paris haben die kleineren Hotels und auch die meisten Privathäuser keine Hausschlüssel, sondern der ›concierge‹, der Hausmeister, schließt, sobald von außen geläutet wird, die Tür automatisch von der Portiersloge auf. In den kleineren Hotels und Häusern bleibt nun der Besitzer oder der Concierge nicht die ganze Nacht in seiner Portiersloge, sondern öffnet von seinem Ehebette aus durch den Druck auf einen Knopf – meist im Halbschlaf – die Haustür; wer das Haus verläßt, hat ›le cordon, s'il vous plaît‹ zu rufen und ebenso jeder, der von außen hereingelassen wird, seinen Namen zu nennen, so daß sich theoretisch kein Fremder nachts in die Häuser einschleichen kann. – Um zwei Uhr morgens hatte nun in meinem Hotel die Glocke von außen geläutet, jemand eintretend einen Namen genannt, der dem eines Hotelbewohners ähnlich schien und einen der noch in der Portiersloge hängenden Zimmerschlüssel abgenommen. Eigentlich wäre es Pflicht des Cerberus gewesen, durch die Glasscheibe die Identität des späten Besuchers zu verifizieren, aber offenbar war er zu schläfrig gewesen. Als aber dann nach einer Stunde wiederum, nun von innen, jemand ›Cordon, s'il vous plaît‹ gerufen habe, um das Haus zu verlassen, sei es ihm doch, nachdem er schon die Haustür geöffnet hatte, merkwürdig vorgekommen, daß jemand nach zwei Uhr morgens noch aus dem Hause gehe. Er sei aufgestanden und habe auf die Gasse nachblickend festgestellt, daß jemand mit einem Koffer das Haus verlassen habe und sei sofort in Schlafrock und Pantoffeln dem verdächtigen Manne nachgefolgt. Sobald er aber gesehen, daß jener sich um die Ecke in ein kleines Hotel Rue des
Petits Champs begab, habe er natürlich nicht an einen Dieb oder Einbrecher gedacht und sich friedlich wieder ins Bett gelegt.
    Aufgeregt über seinen Irrtum, wie er war, stürzte er mit mir zum nächsten Polizeiposten. Es wurde sofort in dem Hotel in der Rue des Petits Champs Nachfrage gehalten und festgestellt, daß sich zwar mein Koffer noch dort befand, nicht aber der Dieb, der offenbar ausgegangen war, um seinen Morgenkaffee in irgendeiner nachbarlichen Bar zu nehmen. Zwei Detektive paßten nun in der Portiersloge des Hotels in der Rue des Petits Champs auf den Bösewicht; als er arglos nach einer halben Stunde zurückkehrte, wurde er sofort verhaftet.
    Nun mußten wir beide, der Wirt und ich, uns zur Polizei begeben, um der Amtshandlung beizuwohnen. Wir wurden in das Zimmer des Unterpräfekten geführt, der, ein ungeheuer feister, gemütlicher, schnurrbärtiger Herr, mit aufgeknöpftem Rock vor seinem sehr unordentlichen und mit Schriftstücken überhäuften Schreibtisch saß. Die ganze Amtsstube roch nach Tabak, und eine große Flasche Wein auf dem Tisch zeigte, daß der Mann keineswegs zu den grausamen und lebensfeindlichen Dienern der heiligen Hermandad zählte. Zuerst wurde auf seinen Befehl der Koffer hereingebracht; ich sollte feststellen, ob Wesentliches darin fehlte. Der einzige scheinbare Wertgegenstand war ein nach den Monaten meines Aufenthalts schon reichlich abgeknabberter Kreditbrief auf zweitausend Franken, der aber selbstverständlich für jeden Fremden unbrauchbar war und tatsächlich unangetastet auf dem Grunde lag. Nachdem ein Protokoll aufgenommen, daß ich den Koffer als mein Eigentum anerkenne und nichts aus demselben entwendet worden sei, gab nun der Beamte Order, den Dieb hereinzuführen, dessen Aspekt ich mit nicht geringer Neugier entgegensah.
    Und sie lohnte sich. Zwischen zwei mächtigen Sergeanten und dadurch in seiner mageren Schmächtigkeit noch grotesker wirkend, erschien ein armer Teufel, ziemlich abgerissen, ohne Kragen, mit einem kleinen, hängenden Schnurrbart und einem trüben, sichtlich halbverhungerten Mausgesicht. Es war, wenn ich so sagen darf,

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