Die Welt von Gestern
Sorgen, unsere Enttäuschungen und Erbitterungen von damals dünken mich heute recht liliputanisch. Zwangsweise haben die Dimensionen dieser Zeit unsere Optik verändert. Hätte ich vor einigen Jahren dies Buch begonnen, ich würde erzählt haben von Gesprächen mit Gerhart Hauptmann, mit Arthur Schnitzler, Beer-Hofmann, Dehmel, Pirandello, Wassermann, Schalom Asch und Anatole France (das letzte war eigentlich ein heiteres, denn der alte Herr servierte uns den ganzen Nachmittag unanständige Geschichten, aber mit einem überlegenen Ernst und einer unbeschreiblichen Grazie). Ich könnte von den großen Premieren berichten, der zehnten [= achten] Symphonie Gustav Mahlers in München, des ›Rosenkavaliers‹ in Dresden, von der Karsawina und Nijinski, denn ich war als beweglich neugieriger Gast Zeuge von vielen ›historischen‹ künstlerischen Ereignissen. Aber alles, was nicht mehr Bindungen zu den Pro
blemen unserer heutigen Zeit hat, bleibt verfallen vor unserem strengeren Maß für Wesentliches. Heute erscheinen mir längst jene Männer meiner Jugend, die meinen Blick auf das Literarische hinlenkten, weniger wichtig als jene, die ihn weglenkten zur Wirklichkeit.
Dazu gehörte in erster Linie ein Mann, der in einer der tragischsten Epochen das Schicksal des Deutschen Reiches zu meistern hatte, und den der eigentlich erste Mordschuß der Nationalsozialisten elf Jahre vor Hitlers Machtergreifung getroffen hat: Walther Rathenau. Unsere freundschaftlichen Beziehungen waren alte und herzliche; sie hatten auf sonderbare Weise begonnen. Einer der ersten Männer, denen ich schon als Neunzehnjähriger Förderung verdankte, war Maximilian Harden, dessen ›Zukunft‹ in den letzten Jahrzehnten des wilhelminischen Kaiserreichs eine entscheidende Rolle spielte; Harden, von Bismarck, der sich seiner gern als Sprachrohr oder Blitzableiter bediente, persönlich in die Politik hineingeschoben, stürzte Minister, brachte die Eulenburg-Affäre zur Explosion, ließ das kaiserliche Palais jede Woche vor anderen Attacken und Enthüllungen zittern; aber trotz all dem blieb Hardens private Liebe das Theater und die Literatur. Eines Tages erschien nun in der ›Zukunft‹ eine Reihe von Aphorismen, die mit einem mir nicht mehr erinnerlichen Pseudonym gezeichnet waren und mir durch besondere Klugheit sowie sprachliche Konzentrationskraft auffielen. Als ständiger Mitarbeiter schrieb ich an Harden: »Wer ist dieser neue Mann? Seit Jahren habe ich keine so gut geschliffenen Aphorismen gelesen.«
Die Antwort kam nicht von Harden, sondern von einem Herrn, der Walther Rathenau unterschrieb und der, wie ich aus seinem Briefe und auch von anderer Seite erfuhr, kein anderer war als der Sohn des allmächtigen Direktors der Berliner Elektrizitätsgesellschaft und selber Großkaufmann, Großin
dustrieller, Aufsichtsrat zahlloser Gesellschaften, einer der neuen deutschen (um ein Wort Jean Pauls zu benutzen) ›weltseitigen‹ Kaufleute. Er schrieb mir sehr herzlich und dankbar, mein Brief sei der erste Zuruf gewesen, den er für seinen literarischen Versuch empfangen hätte. Obwohl mindestens zehn Jahre älter als ich, bekannte er mir offen seine Unsicherheit, ob er wirklich schon ein ganzes Buch seiner Gedanken und Aphorismen veröffentlichen sollte. Schließlich sei er doch ein Außenseiter und bisher habe seine ganze Wirksamkeit auf ökonomischem Gebiet gelegen. Ich ermutigte ihn aufrichtig, wir blieben in brieflichem Kontakt, und bei meinem nächsten Aufenthalt in Berlin rief ich ihn telephonisch an. Eine zögernde Stimme antwortete: »Ach, da sind Sie. Aber wie schade, ich reise morgen früh um sechs nach Südafrika …« Ich unterbrach: »Dann wollen wir uns selbstverständlich ein anderes Mal sehen.« Aber die Stimme setzte langsam überlegend fort: »Nein, warten Sie … einen Augenblick … Der Nachmittag ist mit Konferenzen verstellt … Abends muß ich ins Ministerium und dann noch ein Klubdiner … Aber könnten Sie noch um elf Uhr fünfzehn zu mir kommen?« Ich stimmte zu. Wir plauderten bis zwei Uhr morgens. Um sechs Uhr reiste er – wie ich später erfuhr, im Auftrag des deutschen Kaisers – nach Südwestafrika.
Ich erzähle dies Detail, weil es so ungeheuer charakteristisch für Rathenau ist. Dieser vielbeschäftigte Mann hatte immer Zeit. Ich habe ihn gesehen in den schwersten Kriegstagen und knapp vor der Konferenz von Genua und bin wenige Tage vor seiner Ermordung noch im selben Automobil, in dem er erschossen wurde, dieselbe
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