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Die Welt von Gestern

Die Welt von Gestern

Titel: Die Welt von Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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Straße mit ihm gefahren. Er hatte ständig seinen Tag bis auf die einzelne Minute eingeteilt und konnte doch jederzeit mühelos aus einer Materie in die andere umschalten, weil sein Gehirn immer parat war, ein Instrument von einer Präzision und Rapidität, wie ich es nie bei einem an
deren Menschen gekannt. Er sprach fließend, als ob er von einem unsichtbaren Blatt ablesen würde, und formte dennoch jeden einzelnen Satz so plastisch und klar, daß seine Konversation mitstenographiert ein vollkommen druckreifes Exposé ergeben hätte. Ebenso sicher wie Deutsch sprach er Französisch, Englisch und Italienisch – nie ließ ihn sein Gedächtnis im Stich, nie brauchte er für irgendeine Materie eine besondere Vorbereitung. Wenn man mit ihm sprach, fühlte man sich gleichzeitig dumm, mangelhaft gebildet, unsicher, verworren angesichts seiner ruhig wägenden, alles klar überschauenden Sachlichkeit. Aber etwas war in dieser blendenden Helligkeit, in dieser kristallenen Klarheit seines Denkens, was unbehaglich wirkte wie in seiner Wohnung die erlesensten Möbel, die schönsten Bilder. Sein Geist war ein genial erfundener Apparat, seine Wohnung wie ein Museum, und in seinem feudalen Königin-Luisen-Schloß in der Mark vermochte man nicht warm zu werden vor lauter Ordnung und Übersichtlichkeit und Sauberkeit. Irgend etwas gläsern Durchsichtiges und darum Substanzloses war in seinem Denken; selten habe ich die Tragik des jüdischen Menschen stärker gefühlt als in seiner Erscheinung, die bei aller sichtlicher Überlegenheit voll einer tiefen Unruhe und Ungewißheit war. Meine anderen Freunde, wie zum Beispiel Verhaeren, Ellen Key, Bazalgette waren nicht ein Zehntel so klug, nicht ein Hundertstel so universal, so weltkennerisch wie er, aber sie standen sicher in sich selbst. Bei Rathenau spürte ich immer, daß er mit all seiner unermeßlichen Klugheit keinen Boden unter den Füßen hatte. Seine ganze Existenz war ein einziger Konflikt immer neuer Widersprüche. Er hatte alle denkbare Macht geerbt von seinem Vater und wollte doch nicht sein Erbe sein, er war Kaufmann und wollte sich als Künstler fühlen, er besaß Millionen und spielte mit sozialistischen Ideen, er empfand sich als Jude und kokettierte
mit Christus. Er dachte international und vergötterte das Preußentum, er träumte von einer Volksdemokratie und war jedesmal hochgeehrt, von Kaiser Wilhelm empfangen und befragt zu werden, dessen Schwächen und Eitelkeiten er hellsichtig durchschaute, ohne darum der eigenen Eitelkeit Herr werden zu können. So war seine pausenlose Tätigkeit vielleicht nur ein Opiat, um eine innere Nervosität zu überspielen und die Einsamkeit zu ertöten, die um sein innerstes Leben lag. Erst in der verantwortlichen Stunde, als 1919 nach dem Zusammenbruch der deutschen Armeen ihm die schwerste Aufgabe der Geschichte zugeteilt wurde, den zerrütteten Staat aus dem Chaos wieder lebensfähig zu gestalten, wurden plötzlich die ungeheuren potentiellen Kräfte in ihm einheitliche Kraft. Und er schuf sich die Größe, die seinem Genie eingeboren war, durch den Einsatz seines Lebens an eine einzige Idee: Europa zu retten.

    Nebst manchem Blick ins Weite in belebenden Gesprächen, die an geistiger Intensität und Luzidität vielleicht nur jenen mit Hofmannsthal, Valéry und Graf Keyserling zu vergleichen wären, nebst der Erweiterung meines Horizonts vom Literarischen ins Zeitgeschichtliche danke ich Rathenau auch die erste Anregung, über Europa hinauszugehen. »Sie können England nicht verstehen, solange Sie nur die Insel kennen«, sagte er mir. »Und nicht unseren Kontinent, solange Sie nicht mindestens einmal über ihn hinausgekommen sind. Sie sind ein freier Mensch, nützen Sie die Freiheit! Literatur ist ein wunderbarer Beruf, weil in ihm Eile überflüssig ist. Ein Jahr früher, ein Jahr später macht nichts aus bei einem wirklichen Buch. Warum fahren Sie nicht einmal nach Indien und nach Amerika?« Dieses zufällige Wort schlug in mich ein, und ich beschloß, sofort seinem Rat zu folgen.
    Indien wirkte auf mich unheimlicher und bedrückender, als ich gedacht hatte. Ich war erschrocken über das Elend der ausgemergelten Gestalten, den unfreudigen Ernst in den schwarzen Blicken, die oft grausame Monotonie der Landschaft, und vor allem über die starre Schichtung der Klassen und Rassen, von der ich schon auf dem Schiff eine Probe bekommen hatte. Zwei reizende Mädchen, schwarzäugig und schlank, wohlgebildet und manierlich, bescheiden

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