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Die Welt von Gestern

Die Welt von Gestern

Titel: Die Welt von Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Zweig
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und elegant, reisten auf unserem Boot. Gleich am ersten Tag fiel mir auf, daß sie sich fernhielten oder durch eine mir unsichtbare Schranke ferngehalten wurden. Sie erschienen nicht zum Tanz, sie mengten sich nicht ins Gespräch, sondern saßen abseits, englische oder französische Bücher lesend. Erst am zweiten oder dritten Tage entdeckte ich, daß nicht sie es waren, welche die englische Gesellschaft mieden, sondern die anderen, die sich von den ›Halfcasts‹ zurückzogen, obwohl diese reizenden Mädchen die Töchter eines parsischen Großkaufmanns und einer Französin waren. Im Pensionat in Lausanne, in der finishing-school in England waren sie zwei oder drei Jahre völlig gleichberechtigt gewesen; auf dem Schiff nach Indien aber begann sofort diese kühle, unsichtbare und darum nicht minder grausame Form der gesellschaftlichen Ächtung. Zum erstenmal sah ich die Pest des Rassenreinheitswahns, der unserer Welt verhängnisvoller geworden ist als die wirkliche Pest in früheren Jahrhunderten.
    Durch diese erste Begegnung war mir der Blick von Anfang an geschärft. Mit einiger Beschämung genoß ich die – durch unsere eigene Schuld längst entschwundene – Ehrfurcht vor dem Europäer als eine Art weißen Gotts, der, wenn er eine touristische Expedition machte wie jene auf den Adamspik von Ceylon, unweigerlich von zwölf bis vierzehn Dienern begleitet wurde; alles andere wäre unter seiner ›Würde‹ gewesen. Ich wurde das unheimliche Gefühl nicht los, daß die kommenden
Jahrzehnte und Jahrhunderte Verwandlungen und Umstellungen dieses absurden Verhältnisses bringen müßten, von dem wir in unserem behaglichen und sich sicher wähnenden Europa gar nichts zu ahnen wagten. Dank dieser Beobachtungen sah ich in Indien nicht, wie etwa Pierre Loti, in Rosenrot als etwas ›Romantisches‹, sondern als eine Mahnung; und es waren nicht die herrlichen Tempel, die verwitterten Paläste, nicht die Himalayalandschaften, die mir auf dieser Reise im Sinne der inneren Ausbildung das meiste gaben, sondern die Menschen, die ich kennenlernte, Menschen einer anderen Art und Welt, als sie im europäischen Binnenland einem Schriftsteller zu begegnen pflegten. Wer damals, als man sparsamer rechnete und als Cooks Vergnügungstourneen noch nicht organisiert waren, über Europa hinaus reiste, war fast immer in seinem Stande und seiner Stellung ein Mann besonderer Art, der Kaufmann kein kleiner Krämer mit engem Blick, sondern ein Großhändler, der Arzt ein wirklicher Forscher, der Unternehmer von der Rasse der Conquistadoren, verwegen, großzügig, rücksichtslos, selbst der Schriftsteller ein Mann mit höherer geistiger Neugierde. In den langen Tagen, den langen Nächten der Reise, die damals noch nicht das Radio mit Schwatz erfüllte, lernte ich im Umgang mit dieser anderen Art von Menschen mehr von den Kräften und Spannungen, die unsere Welt bewegen, als aus hundert Büchern. Veränderte Distanz von der Heimat verändert das innere Maß. Manches Kleinliche, das mich früher über Gebühr beschäftigt hatte, begann ich nach meiner Rückkehr als kleinlich anzusehen und unser Europa längst nicht mehr als die ewige Achse unseres Weltalls zu betrachten.
    Unter den Männern, denen ich auf meiner Indienreise begegnete, hat einer auf die Geschichte unserer Zeit unabsehbaren, wenn auch nicht offen sichtbaren Einfluß gewonnen. Von Kalkutta aus nach Hinterindien und auf einem Flußboot
den Irawadi hinaufsteuernd, war ich täglich stundenlang mit Karl Haushofer und seiner Frau zusammen, der als deutscher Militärattaché nach Japan kommandiert war. Dieser aufrechte, hagere Mann mit seinem knochigen Gesicht und einer scharfen Adlernase gab mir die erste Einsicht in die außerordentlichen Qualitäten und die innere Zucht eines deutschen Generalstabsoffiziers. Ich hatte selbstverständlich schon vordem in Wien ab und zu mit Militärs verkehrt, freundlichen, liebenswürdigen und sogar lustigen jungen Menschen, die meist aus Familien mit bedrängter Lebensstellung in die Uniform geflüchtet waren und aus dem Dienst sich das Angenehmste zu holen suchten. Haushofer dagegen, das spürte man sofort, kam aus einer kultivierten, gutbürgerlichen Familie – sein Vater hatte ziemlich viele Gedichte veröffentlicht und war, glaube ich, Professor an der Universität gewesen –, und seine Bildung war auch jenseits des Militärischen universal. Beauftragt, die Schauplätze des russisch-japanischen Krieges an Ort und Stelle zu studieren, hatten sowohl

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