Die Welt von Gestern
was diese tun müssen. Stell dir vor, du seiest gezwungen, spätestens nach drei Tagen dir dein Brot zu verdienen. Sieh dich um, wie man hier anfängt als Fremder ohne Verbindungen und Freunde sofort einen Verdienst zu finden! So begann ich von Stellenbüro zu Stellenbüro zu wandern und an den Türen die Anschlagzettel zu studieren. Da war ein Bäcker gesucht, dort ein Aushilfsschreiber, der Französisch und Italienisch können mußte, hier ein Buchhandlungsgehilfe: dies letztere immerhin eine erste Chance für mein imaginäres Ich. So kletterte ich hinauf, drei Stock eiserne Wendeltreppen, erkundigte mich nach dem Gehalt und verglich es wiederum in den Zeitungsannoncen mit den Preisen für ein Zimmer in der Bronx. Nach zwei Tagen ›Stellensuche‹ hatte ich theoretisch fünf Posten gefunden, die mir das Leben hätten fristen können; so hatte ich stärker als im bloßen Flanieren mich überzeugt, wieviel Raum, wieviel Möglichkeit in diesem jungen Lande für jeden Arbeitswilligen vorhanden war, und das imponierte mir. Auch hatte ich durch dieses Wandern von Agentur zu Agentur, durch das Mich-Vorstellen in Geschäften Einblick in die göttliche Freiheit des Landes gewonnen. Niemand fragte mich nach meiner Nationalität, meiner Religion, meiner Herkunft, und ich war ja – phantastisch für unsere heutige Welt der Fingerabdrücke, Visen und Polizeinachweise – ohne Paß gereist. Aber da stand die Arbeit und wartete auf den Menschen; das allein entschied. In einer Minute war ohne den hemmenden
Eingriff von Staat und Formalitäten und Trade-Unions in diesen Zeiten schon sagenhaft gewordener Freiheit der Kontrakt geschlossen. Dank dieser ›Stellungssuche‹ habe ich gleich in den ersten Tagen mehr von Amerika gelernt als in all den späteren Wochen, wo ich als behaglicher Tourist dann Philadelphia, Boston, Baltimore, Chicago durchwanderte, einzig in Boston bei Charles Loeffler, der einige meiner Gedichte komponiert hatte, ein paar gesellige Stunden verbringend, sonst immer allein. Ein einziges Mal unterbrach eine Überraschung diese völlige Anonymität meiner Existenz. Ich erinnere mich noch deutlich an diesen Augenblick. Ich schlenderte in Philadelphia eine breite Avenue entlang; vor einer großen Buchhandlung blieb ich stehen, um wenigstens an den Namen der Autoren irgend etwas Bekanntes, mir schon Vertrautes zu empfinden. Plötzlich schrak ich auf. Im Schaufenster dieser Buchhandlung standen links unten sechs oder sieben deutsche Bücher, und von einem sprang mein eigener Name mich an. Ich blickte wie verzaubert hin und begann nachzudenken. Etwas von meinem Ich, das da unbekannt und scheinbar sinnlos durch diese fremden Straßen trieb, von niemandem gekannt, von niemandem beachtet, war also schon vor mir dagewesen; der Buchhändler mußte meinen Namen auf einen Bücherzettel geschrieben haben, damit dieses Buch zehn Tage über den Ozean hinüberfuhr. Für einen Augenblick schwand das Gefühl der Verlassenheit, und als ich vor zwei Jahren wieder durch Philadelphia kam, suchte ich unbewußt immer wieder diese Auslage.
San Francisco zu erreichen – Hollywood war zu jener Zeit noch nicht erfunden –, hatte ich nicht mehr den Mut. Aber wenigstens an einer anderen Stelle konnte ich doch den ersehnten Blick auf den Pazifischen Ozean tun, der mich seit meiner Kindheit durch die Berichte von der ersten Weltumseglung fasziniert hatte, und zwar von einer Stelle, die heute verschwun
den ist, einer Stelle, die nie wieder ein sterbliches Auge erblicken wird: von den letzten Erdhügeln des damals noch im Bau befindlichen Panamakanals. Ich war über Bermuda und Haiti mit einem kleinen Schiff hinuntergesteuert – unsere dichterische Generation war ja durch Verhaeren erzogen, die technischen Wunder unserer Zeit mit dem gleichen Enthusiasmus zu bewundern wie unsere Vorfahren die römischen Antiken. Schon Panama selbst war ein unvergeßlicher Anblick, dies von Maschinen ausgebaggerte Flußbett, ockergelb selbst durch die dunkle Brille ins Auge brennend, eine teuflische Lust, durchschwirrt von Millionen und Milliarden Moskitos, deren Opfer man auf dem Friedhof in unendlichen Reihen sah. Wie viele waren gefallen für dieses Werk, das Europa begonnen hatte und Amerika vollenden sollte! Und nun erst, nach dreißig Jahren der Katastrophen und Enttäuschungen, ward es Gestalt. Ein paar Monate noch letzter Arbeit an den Schleusen, und dann ein Fingerdruck auf den elektrischen Taster, und die zwei Meere strömten nach Jahrtausenden für
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