Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
Zollwärter gab, auf Tatsachen beruht oder nicht, weiß niemand.
Wen stört das? Diese dürftige Lebensgeschichte ist Laotse jedenfalls wie auf den Leib geschnitten: »Ein guter Läufer hinterlässt
keine Spur«, sagte er. Das hat er gelebt, und so spurlos ist er verschwunden.
Mich interessierte eher, auf was für Material der Meister schrieb. Denn die chinesische Schrift entwickelte sich erst spät,
lange Jahre nach ihrer Erfindung im Vorderen Orient. Zur Zeit der Abfassung des Tao Te King waren Schriftzeichen in China
noch etwas Neues. Meister Lao hielt damals sogar eine Rückkehr zur archaischen Knotenschnurschrift für möglich. Im Vorderen Orient, vermutlich über die Phönizier, hatte sich dagegen längst
das moderne Alphabet durchgesetzt. Lückenhaft stellt sich auch die Geschichtsschreibung im alten |30| China dar. Beamtete Staatssekretäre, keine Historiker führten die Annalen. Kein Wunder, dass wir über Konfuzius, Laotse und
viele ihrer Zeitgenossen weniger verlässliche Daten besitzen als über Sokrates in Athen oder über Esra, den Priester in Jerusalem.
Natürlich umranken viele, ja Tausende von Legenden den Meister Lao. Die schönste von ihnen erzählt, dass Laotse als Greis
mit wallendem weißen Bart von seiner Mutter geboren wurde und ein Wunderkind war.
Wie haben sich die Leute das bloß vorgestellt? Irgendwann überformt die Legende die Realität so sehr, dass niemand mehr nach
so törichten Dingen fragt. Die virtuelle Wirklichkeit wird zur handfesten Realität in den Seelen der nachfolgenden Generationen.
Sie verleiht den religiösen Heilsgestalten eine unverlierbare Retterkraft. Was bedeutet schon Wirklichkeit? Wirklich ist,
was wirkt, ob virtuell oder real. Aber das ist eine schwierige Diskussion, die ich lieber später noch einmal aufnehmen will.
Mythisch, legendär, historisch oder fiktiv – Laotse ist früh zu einem meiner Lebensbegleiter geworden. Ich möchte ihn in meinem
Leben nicht missen. Darum nehme ich innerlich teil an Meister Laos persönlicher Tragik, die aus einem Kapitel des Tao Te King
hervorscheint:
»Alle strahlen vor Freude, für sie ist das Leben ein Fest mit lauter Frühlingsgefühlen. Ich allein nehme nicht teil, ich lebe
in einer verkehrten Welt. Wie ein Neugeborenes bin ich, das kaum schon lacht, das noch den ganzen Tag verschläft. So abgesondert,
so ausgeschlossen bin ich. Alle leben in vollen Zügen, ich allein bin von allem entleert. Wirklich, ich habe ein närrisches
Herz, so einfältig und töricht. Alle sehen klar, nur um mich ist es dunkel. Alle kommen so sicher daher, ich allein traue
mich nicht. Wanke ziellos hin und her, wie ein Blatt, das der Wind verweht. Andere verfolgen tatkräftig ihr Ziel, ich dagegen
bin ungeschickt, ich allein so unbeholfen, – anders bin ich als alle die anderen, der ich die nährende Mutter verehre.«
War es nun der alte Meister, der dies schrieb, oder ein unbekannter Verfasser? Wie auch immer, es war ein Mensch. Jeder kennt
solche Stimmungen, wenn wir uns mitten unter vielen Leuten plötzlich mutterseelenallein fühlen auf der Welt.
Mir ist der Alte Meister nie fremd gewesen, von Anfang an nicht. Schon bei unserer ersten Begegnung fand ich auch Verbindungen
zur christlichen Religion, mit der ich aufgewachsen war. Die Botschaft der »Bergpredigt« von Jesus, sein »Liebet eure Feinde«.
Bei Laotse las ich: »Den Guten bin ich gut, den Unguten auch, denn Güte ist von Natur aus gut.« Schlägt dir einer ins Gesicht, |31| schlag nicht zurück, besser, du hältst ihm noch die andere Backe hin! Auch diese christliche Grundregel entdeckte ich bei
Laotse: »Kannst du nachgeben, bist du stark.« Und: »Vergilt Böses mit Gutem.« Es gibt eine ganze Reihe von solchen Parallelen
zum Neuen Testament im Tao Te King. Hunderte von Jahren vor Christus lebte also bereits eine Tradition, in der sich auch Jesus
wiedergefunden hätte! Das rückt unser Verständnis von der exklusiven, einzigartigen christlichen Offenbarung in ein ganz anderes
Licht.
Eine antiautoritäre Religion
Laotses Tao-Art stand im Widerspruch zu allen autoritären Wahrheitsansprüchen, die mir bekannt waren. Seine antiautoritäre
Botschaft kam mir schon auf den ersten Blick entgegen.
»Namenlos wirkt die Tao-Art, legt ihr Werk nicht in Beschlag. Die zehntausend Dinge kleidet und nährt sie und spielt sich
nicht als Herrin auf. Weil sie nichts begehrt, kannst du sie als klein bezeichnen. Weil die Zehntausend Wesen
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