Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
ihrer Bewegung
folgen, kannst du sie auch als groß bezeichnen. Darum, weil sie nicht groß tut, bringt sie unentwegt ihr großes Werk zustande.«
Wu-wei überall: Sich zurücknehmen, nicht aufdrängen, begegnet uns im Tao Te King als Prinzip der persönlichen Lebensführung,
als Staatsphilosophie und in Laotses religiöser Sichtweise. »Namenlos wirkt sie«, die Tao-Kraft, »und legt ihr Werk nicht
in Beschlag«. Übersetze ich das in unsere westliche Religionsvorstellung, hieße das: Der beste Gott ist jener, von dessen
Existenz wir nichts merken. Einer, der die Welt unmerklich regiert, einer der sich nicht aufdrängt.
In der jüdisch-christlich-islamischen Frömmigkeit treffen wir auf eine ganz andere Gottesvorstellung.
Die Idee von Gott als »gewaltig Ich sagendes Du«, wie es Thomas Mann formuliert, blieb Laotse und dem gesamten östlichen Denken
fremd. Denn die östlichen Philosophen begreifen den kosmischen Prozess als unendlichen Ablauf. Ohne Anfang und ohne Ende.
Thomas Mann nimmt einen Gedanken des mittelalterlichen Theologen Anselm von Canterbury auf, wenn er vom Gott Abrahams sagt,
er sei »notwendig größer als alle seine Werke, und ebenso notwendig außerhalb seiner Werke«. Für Anselm ist Gott das »größtmöglich
Denkbare«, womit zugleich seine Existenz bewiesen wäre. Der Gott der Christen steht über der Welt, die er erschaffen hat.
In der östlichen Philosophie ist hingegen der Weltprozess das »größtmöglich Denkbare«. Darum kann es außerhalb |32| der Welt keinen Gott geben: Gott und die Götter sind in den östlichen Religionen innerweltliche Gegebenheiten. Dem Stirb und
Werde sind sie unterworfen wie alles andere auch auf der Erde. Neben unzählbaren anderen Gottheiten, Dämonen und Geistern,
männlich und weiblich, kennt auch der Taoismus einen »Großen Himmelsherrn«. Dieser jedoch entstand im Verlauf der Weltwerdung,
ist also kein außerweltlicher Gott, »notwendig viel größer als alle seine Werke«, der die Schöpfung aus dem Nichts hätte hervorrufen
können. Sind demnach Taoismus, Hinduismus und der Buddhismus in all seinen Spielarten nur Erlösungslehren, aber keine Religionen?
Ich denke, über die Gottesfrage wird im 3. Jahrtausend neu gesprochen werden müssen: zwischen den Religionen, der Naturwissenschaft
und den Philosophen. Ich sehe darin eine positive Herausforderung, und in meinem Schlusskapitel komme ich darauf noch einmal
zurück.
Die Fülle des Leeren
In China traf der missionierende Buddhismus auf den Taoismus, und die Mönche entdeckten in Laotse einen verwandten Geist.
Umgekehrt erzählt eine Legende der Taoisten, Laotse sei während seiner Emigration bis nach Indien gekommen und habe am Himalaya
den Buddha unterwiesen. Noch heute stehen in China Laotse und Buddha auf Altären einträchtig nebeneinander.
Es war Laotses Begriff der »Leere«, des »Nichts«, in dem die buddhistischen Mönche glaubten, die Lehre ihres Meisters wiederzufinden.
Einen dieser Texte aus dem Tao Te King möchte ich hier vorstellen.
»Dreißig Speichen umgeben die Nabe, auf dem Nichts daran beruht des Rades Brauchbarkeit. Aus Ton werden Töpfe gemacht, auf
dem Nichts daran beruht eines Topfes Brauchbarkeit. Beim Hausbau spart man Fenster und Türen aus, auf dem Nichts daran beruht
des Hauses Brauchbarkeit. Also: Das Sein gibt Besitz, das Nichtsein Brauchbarkeit.«
Weitere Beispiele finden sich leicht. Die Nähnadel, die japanischen Haiku-Gedichte, in denen die Szene wie leer bleibt, oder
das Phänomen, dass wir in Briefen und Büchern viele Dinge nur zwischen den Zeilen lesen können. Am anschaulichsten erscheint
die Leere in der chinesischen Landschaftsmalerei. Viel leerer Raum umgibt eine Föhre, den Berg, Wolken scheinen in nebelhafte
Weiten zu reisen. Die Leere ist ebenso wichtig wie das dargestellte Objekt, oder sogar noch wichtiger, denn sie repräsentiert
Wu-wei, das Sich-Zurücknehmen. |34| Die chinesischen Buddhisten würden sagen, die Leere ist die Buddha-Natur der Dinge. Aber damit bin ich fast schon beim nächsten
Kapitel.
Die Leere ist die Buddha-Natur der Dinge: Laotse, Buddha und ein Schüler.
|34| Betrachten wir eine weitere Verknüpfung mit den außerchinesischen Religionen. Meister Lao zitiert eine alte, überlieferte
Herrscherwahrheit: »Wer den Schmutz sich auflädt im Land, sei zum Herrn des Himmelsaltars ernannt. Wer des Landes Unheil auf
sich nimmt, sei zum König der Welt bestimmt.« Laotse, der immer
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