Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
wieder die Mächtigen kritisierte, gab zu bedenken: »Gerade
Worte erscheinen wie krumm.«
Den Hintergrund dieser Spruchweisheit bilden die Königsmythen, die von der Selbstopferung eines Königs erzählen, dessen Tod
und Sterben das Land von einem Desaster erlöst. Er opfert sich stellvertretend für die Sünde des Volkes, »nimmt des Landes
Unheil auf sich« – was für ein Gegenbild zu den arroganten Machteliten aller Zeiten!
Die Idee des stellvertretenden Leidens war in der damaligen Welt weit verbreitet. Mithras, der »starkarmige« Gott aus dem
alten Iran, soll sich als »Himmelsstier« selbst geopfert haben. Die Heilsgestalten des späteren Buddhismus nehmen das Leiden
aller Wesen auf sich. Sie schwören, so lange nicht ins Nirwana einzugehen, bis sie die ganze Welt erlöst und errettet haben.
In der hebräischen Bibel taucht während des Babylonischen Exils die Gestalt des »Gottesknechtes« auf, von dem es heißt: »Er
trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Um unserer Missetat willen ist er verwundet und um unserer Sünde
willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten.« In der antiken Christenheit ist ein häufiges Motiv
der bildenden Kunst ein Pelikan, der seine Brust aufreißt und durch sein Blut seine Kinder aufleben lässt: eine alte Wanderlegende,
von den Christen als Sinnbild ihres gekreuzigten Erlösers verstanden. Unter den muslimischen Schiiten des Iran wird bis heute
der Tod des Prophetenenkels Husain als stellvertretendes Leiden gedeutet. Seiner gedenkt man im ersten Kalendermonat des Jahres
mit Passionsspielen, in Poesie und Prosa, und mit Umzügen der Männer, die sich bis aufs Blut verwunden und sich mit Ketten
geißeln.
Eine archaische Sitte, eine archaische Philosophie, die nichts von ihrer Eindringlichkeit verloren hat. Thomas Müntzer, der
gescheiterte Bauernführer des 16. Jahrhunderts, sah in seiner Folter und der bevorstehenden Hinrichtung eine Sühne für das
Volk, »das seinen Eigennutz mehr gesehen hat als die Erneuerung der Christenheit«. »Semen est sanguis Christianorum«, das
Blut der Märtyrer ist der Samen der Kirche, sagte man in der frühen Christenheit. So dachte auch Müntzer, und dieser Gedanke
mag ihn in seinen letzten Stunden getröstet |35| haben. Doch Märtyrer sind gefährliche Leute, ihr Blut beschwört neues Blutvergießen. Böses Blut erregen aber ist der Tao-Art
entgegen.
Bei Laotses Königswort erinnere ich mich deshalb lieber an Janusz Korczak, den polnischen Arzt, Schriftsteller und Pädagogen.
Korczak wurde 1942 mit 200 seiner Heimkinder nach Treblinka deportiert. Er ging mit ihnen in die Gaskammer. Zuvor hatten die
Aufseher ihm freigestellt, im Lager als Arzt zu arbeiten. Korczak schlug das Angebot aus, »um seine Kinder auch auf ihrem
letzten Weg zu begleiten und ihnen die Angst zu nehmen«. An Märtyrerlohn dachte er dabei bestimmt nicht. Janusz Korczak folgte
einer persönlichen Gewissensentscheidung, für die es keine Regel, keine Nachahmer geben kann.
Die Selbstverpflichtung »Noblesse oblige«, Adel verpflichtet zu noblem Tun, ist das europäische Pendant zu Laotses Königswort:
»Wer des Landes Unheil auf sich nimmt, sei zum König der Welt bestimmt.« Auch die europäische Tradition weiß also um eine
moralische Nötigung zur Selbstbeschränkung der Macht. Bei Laotse weist zugleich das Wort bis in die Zeit der Medizinmänner
und Schamanen zurück, die als Heiltänzer die Krankheitsgeister ihrer Patienten willentlich auf sich zogen, um sie wegzutanzen.
Eine Praxis, die bis heute in Afrika oder Südamerika lebendig ist. Im Tao Te King stellt die Lehre vom stellvertretenden Leiden
die äußerste Konsequenz von Laotses Wu-wei dar. Wir werden dem Stellvertreter-Gedanken in diesem Buch noch mehrfach begegnen,
darum hebe ich ihn hier besonders hervor.
Wie ich es sehe, enthält der Tao Te King in Kurzform beinahe alle Themen der Religionsgeschichte. Ist aber der Taoismus überhaupt
eine Religion? Eine Weltreligion ist er gewiss nicht. Gleichwohl hat das Buch, der Tao Te King, durch seine weltweite Verbreitung
den Status eines globalen religiösen Symbols gewonnen. Westliche Wissenschaftler unterscheiden zwischen dem philosophischen
und dem religiösen Taoismus. Das taiwanesische Informationszentrum für Taoismus definiert ihn umfassend als Religion: »Religiöser
Taoismus ist die einheimische Religion Chinas. Ihre höchsten Glaubensgüter sind
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