Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
Langlebigkeit und Unsterblichkeit.« Die westliche
Trennung von Philosophie und religiöser Praxis sieht man dort unter Vorbehalt: »Es ist unzulässig, die Tao-Religion als degeneriertes
Produkt der Tao-Philosophie zu betrachten. Die Verwandtschaft zwischen beiden sollte anders gesehen werden. Das System der
Tao-Religion umschließt viele Aspekte, die der Tao-Philosophie abgehen, jedoch von höchster Bedeutung für das praktische Leben
sind. Taoistische Philosophie appelliert an Logik und Geist, während der religiöse Taoismus auf die Ängste der Menschen, auf
ihr Gefühl für das Mysteriöse eingeht.« Das gemeinsame |36| Ziel ist eine Lebenspraxis, »die Himmel und Erde eint«. Dazu gehören in der Religionsausübung das Vitalatmen, glücksbringende
Amulette, Talismane, Fulu genannt, Beschwörungen, magische Handlungen, die Opfer an den Himmel aller Himmel, Opfer für die
Seelen der Ahnen, das Herbeizaubern von Reichtum und Wohlstand, Räucherstäbchen, Tempelfeste und andere Zeremonien – alles,
was der Taoismus auf seinem langen Weg durch die chinesische Geschichte aus dem Volksglauben übernommen hat. Das kommunistische
China vertrieb die Taoisten unter dem Vorwurf der Volksverdummung. In Südostasien, besonders auf Taiwan, fanden sie eine neue
Heimat.
Wie weit ist es bis Utopia?
Am Ende des Tao Te King entführt uns Laotse in ein utopisches Wunschland: »Ein kleines Land wünsche ich mir, ein Volk gering
an Zahl, wo das Angebot von Gütern die Nachfrage vielfach übersteigt. Mach, dass die Leute gern da leben, nicht auswandern
möchten in die Ferne. Wohl hat man Schiffe, Wagen |37| dort, doch gibt es keinen Grund, sie zu besteigen, wohl gibt es Panzer, Waffen dort, doch keinen Grund, sie zu gebrauchen.
Die Schriftzeichen mögen sie vergessen, lieber werden sie wie früher Knotenschnüre knüpfen. Mach süß ihre Speise, schön ihre
Kleidung, friedlich ihr Wohnen, heiter ihre Lebensweise. Nachbarländer sieht man von Weitem, hört Hähne und Hunde von drüben,
doch werden die Menschen alt und sterben, ohne hin und her gereist zu sein.« Und an anderer Stelle heißt es: »Ohne das Haus
zu verlassen, kannst du die Welt erfassen, ohne aus dem Fenster zu spähen, des Himmels Tao-Bewegung sehen, bist du aufs Reisen
versessen, wirst du dein wahres Wissen vergessen.«
Der Taoismus kennt unzählige Gottheiten, Dämonen und Geister.
|37| Möchte ich in Laotses Wunschland leben? Das frage ich mich jedes Mal neu, wenn ich diesen Text lese. Vielleicht hat Meister
Lao sein kleines Paradies im Westen, hinter den Bergen, gefunden? Ich wünsche es ihm. Mir aber würde es dort in der glücklichen
Enge auf die Dauer nicht gefallen.
Darin fühle ich mich dem Philosophen Immanuel Kant verbunden, der schrieb: »Die Natur hat den Schmerz zum Stachel der Tätigkeit
in den Menschen gelegt, dem er nicht entgehen kann. Im Leben (absolut) zufrieden zu sein wäre tatenlose Ruhe. Eine solche
aber kann mit dem intellektuellen Leben des Menschen nicht zusammen bestehen.« Das ist typisch westlich gedacht, und Kant
weiß das. Am Gelben Fluss in China mag ein Mann »stundenlang mit seiner Angelrute sitzen, ohne etwas zu fangen«. Den westlichen
Philosophen treibt es jedoch hinaus aus dem Paradies: »Sein Leben fühlen, sich vergnügen, ist also nichts anderes als: sich
kontinuierlich getrieben fühlen, aus dem gegenwärtigen Zustand herauszugehen.« Wer hat Recht? Laotse oder Kant? Diese Frage
ist noch nicht entschieden.
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|38| Buddhismus: Nirwana-Trotz
Das Weltbild Laotses gibt eine einfache Regel vor: Tu, was Himmel und Erde eint, finde dein Gleichgewicht. Eine völlig andere
Weltsicht begegnet uns zur gleichen Zeit jenseits des Himalaya. Hier, im hinduistischen Indien, heißt die Regel: Öffne das
Viele für das Eine.
Im Kreislauf des Stirb und Werde
Auf dem indischen Subkontinent kommt die Welt daher mit der Wucht einer Lawine. Sie gleicht einem kreativen Chaos, ohne Richtung,
ohne Ziel, von Ewigkeit zu Ewigkeit sich ständig neu erschaffend. Symmetrie und Gleichgewicht, klare Regeln, wie der Weise
des Tao Te King sie suchte, sind in diesem regellosen Brodeln des Weltprozesses nicht auszumachen. Wenigstens nicht für das
Alltagsleben auf der Erde. Aber auch die Götter haben es nur ein bisschen besser. Denn auch sie erfasst irgendwann wieder
der Mahlstrom des Stirb und Werde, verschlingt sie und gebiert die ehemaligen Himmelsbewohner in einer
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