Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
ausschloss. Ihren
elitären Standpunkt bekräftigten sie durch die radikale Überzeugung: »Verflucht sei das Volk, das die Tora nicht kennt.« Um
wirklich jeder Verletzung des Gesetzes vorzubeugen, schalteten die Pharisäer jedem Gebot noch zusätzliche Gebote vor, damit
wie durch einen Zaun die Tora sogar noch vor versehentlichen Übertretungen geschützt blieb.
Der pharisäischen Frömmigkeitsbewegung haftete zweifellos etwas Sektiererisches an. Bis in die Gegenwart kennen wir derartig
fanatische Religionsbewegungen, die sich als allein heilsbringend ausgeben. Wir haben allen Grund, sie zu fürchten.
Doch gerade das will mir bei den Pharisäern nicht gelingen. Zu genau sehe ich den zeitgeschichtlichen Hintergrund ihres Protestes:
eine korrupte Priesterschaft, zynisch zur Schau gestellter Reichtum der oberen Zehntausend, selbsternannte Messiasanwärter,
denen das »unwissende Volk« nachrannte, die täglichen Demütigungen durch die Besatzer. Wo blieb da jemand, der »gerecht und
gottesfürchtig« sein wollte und auf den Trost Israels wartete? Zuflucht bot allein die Tora, die unablässige Beschäftigung
mit ihren Worten und Buchstaben.
|122| Lebendiges Judentum
Meine theologischen Vorlesungen, die ich als Student in den 1950er Jahren besuchte, haben mir die Beziehung von Christentum
und Judentum nie wirklich deutlich zu Bewusstsein gebracht. Hebräisch lernte ich nur, weil ich die Bibel im Original lesen
wollte, nicht weil mich das Judentum der Gegenwart sonderlich interessierte hätte. Die Schuld des Holocaust, die war bekannt
und in unseren Köpfen allgegenwärtig. Und dass die Juden Gotteshäuser besaßen, wusste ich schon mit neun Jahren, 1938, als
Hitlers braune Schläger überall die Synagogen in Brand setzten. Aber es vergingen Jahre, bis ich zum ersten Mal eine Synagoge
betrat und an einem Gottesdienst teilnahm.
Das Judentum war in der jungen Bundesrepublik praktisch nicht mehr vorhanden. Schließlich war diese erst 1949 gegründet worden,
direkt nach dem Zweiten Weltkrieg und nach der Zeit des Nationalsozialismus, der für die Millionen von Juden, die früher in
Deutschland lebten, entweder die Flucht oder den Tod bedeutet hatte. Deshalb brauchte es Jahre, bis mir aufging, dass es nicht
allein die Hebräische Bibel war, in deren Welt die Juden lebten, sondern dass neben ihr eine zweite, die Tora der Rabbiner,
der Talmud, existierte. Die rabbinische Tora ist präsent in den Festbräuchen von Neujahr und Pessach, ihren Regeln folgt die
häusliche Sabbatfeier, nach ihren Speisegesetzen richtet sich die Hausfrau ebenso wie der Imbissverkäufer in Tel Aviv. Die
rabbinische Auslegung der Hebräischen Bibel trägt die Gestaltung des Gottesdienstes, in ihrer Tradition stehen Gebet, Lied
und Segen, die Einführungsfeier der Jungen und Mädchen in die Gemeinde, Eheschließung, Geburt, Beschneidung, das Totengedenken.
Nichts davon begegnete mir in den Vorlesungen zum »Alten Testament«. Wenn meine Professoren vom »Judentum« sprachen, klang
das nach verstaubtem religiösen Inventar, nicht nach gelebter, spiritueller Frömmigkeit und Erfahrung.
Meine erste wirkliche Begegnung mit dem Judentum verdanke ich Martin Buber, dem deutschsprachigen jüdischen Philosophen. Seine
»
Erzählungen der
Chassidim
« sind eins der Bücher, die ich mit auf eine Insel nehmen würde, auch heute noch. Ein unerschöpflicher Schatz von kurzen Geschichten,
Legenden, Lehrzitaten aus dem Leben der Chassidim, einer strenggläubigen und zum Mystischen neigenden jüdischen Bewegung,
die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts in Osteuropa, in Polen und in der Ukraine beheimatet war. Ich zitiere eine Erzählung
aus Bubers Vorwort:
»Man bat einen Rabbi, dessen Großvater ein Schüler des Baalschem gewesen |123| war [er lebte im 18. Jahrhundert], eine Geschichte zu erzählen. ›Eine Geschichte‹, sagte er, ›soll man so erzählen, dass sie
selber Hilfe sei.‹ Und er erzählte: ›Mein Großvater war lahm. Einmal bat man ihn, eine Geschichte von seinem Lehrer zu erzählen.
Da erzählte er, wie der heilige Baalschem beim Beten zu hüpfen und zu tanzen pflegte. Mein Großvater stand und erzählte, und
die Erzählung riss ihn so hin, dass er es hüpfend und tanzend zeigen musste, wie es der Meister gemacht hatte. Von der Stunde
an war er geheilt. So soll man Geschichten erzählen.‹«
Beim Beten hüpfen und tanzen? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Aber das ist die chassidische
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