Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
schlachten, sodann ein Speisopfer, mit Öl eingerührt, denn heute wird euch Jahwe erscheinen.«
Die dem neuen Tempel ergebenen Kreise fordern überdies, die priesterliche Orakelpraxis zu reaktivieren, strittige Rechtsfragen
zurück in die Hände des Hohen Priesters zu legen und so weiter – alles genau wie in jenen Tagen, als das zerstörte Heiligtum
auf dem Zionsberg noch in voller Funktion war.
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Die Synagoge, ein Lehr- und Lernhaus.
|118| Gott erwarte, dass ihm die Seinen wieder ein Haus zur Verfügung stellten, und dazu müsse man jetzt schon alle Vorbereitungen
treffen, rechtfertigen die jüdischen Tempel-Fundamentalisten ihre Aktivitäten.
Die Mehrzahl der Tora-Gelehrten steht solchen Aktivitäten ablehnend gegenüber. Ja, sie warnen die übereifrigen Gläubigen:
Der Versuch, den jüdischen Tempel an seinem angestammten Platz gewaltsam wieder aufzuführen, werde die Welt ins Chaos stürzen!
Die Rabbiner haben Recht, die Fundamentalisten spielen mit dem Feuer. Wer die Moscheen des Tempelbergs angreift, mit Worten
oder Taten, beschwört einen weltweiten Heiligen Krieg mit dem Islam herauf, mit einer Milliarde von Muslimen.
Solche innerjüdischen Diskussionen machen mir eindringlich klar, wie schwer der Verlust des Heiligtums noch heute, im 3. Jahrtausend,
für die Juden wiegt. Dabei sind inzwischen fast 2000 Jahre vergangen, seit Jerusalem mit seinem Tempel in Schutt und Asche
sank. Das war im Jahr 70 unserer Zeit, am 9. Tag des Monats Av, und geschah auf Befehl des römischen Feldherrn Titus. Mit
seinem Zerstörungswerk wollte Titus Israels Lebensnerv treffen.
Wie anders, wie glänzend hatte das antike Judentum Jahrzehnte vor dem jüdisch-römischen Krieg dagestanden! Es empfahl sich
den Bürgern des Römischen Weltreichs als Alternativreligion. Die Römer, berichtet ein Chronist, verehrten 30000 Gottheiten
und begingen 157 religiöse Festtage im Jahr. Davon hob sich die jüdische Frömmigkeit entschieden ab. Denn sie lehrte den konsequenten
Ein-Gott-Glauben und orientierte sich an den Zehn Geboten.
Das imponierte vielen Nicht-Juden. Besonders denen, die mit der aufgeklärten Philosophie der griechisch-römischen Stoa in
Berührung gekommen waren. Die Stoiker hatten sich von der antiken Götterwelt verabschiedet und sahen das Weltganze als Einheit,
die vom Gesetz der sittlichen Vernunft durchwaltet wurde. Unter allen Religionen schien vor allem die jüdische dem stoischen
Denken verwandt. Das machte sie für kritische und nachdenkliche Zeitgenossen der Mittelmeerwelt attraktiv.
Jüdische Wissenschaftler trugen ihren Teil dazu bei, das Judentum populär zu machen. Sie übersetzten die Hebräische Bibel
ins Griechische, der damaligen |119| Weltsprache, und versahen sie mit gelehrten, modernisierenden Kommentaren. Vor dem jüdisch-römischen Krieg war die Schar der
ausländischen Sympathisanten schließlich auf eine beeindruckende Zahl herangewachsen. Sie nahmen als Pilger an den Jahresfesten
Jerusalems teil, ließen sich zum Teil sogar in der Hauptstadt und der jüdischen Provinz nieder. Und die jüdischen Religionsbehörden
akzeptierten deren Sprache, das Griechische, neben der aramäischen Landessprache als Verkehrssprache. Die römische Verwaltung
ihrerseits erkannte ausdrücklich den jüdischen Behörden das einmalige Vorrecht zu, von auswärtigen Juden und Sympathisanten,
die verstreut in den Provinzen des Römischen Reiches lebten, eine eigene Religionssteuer zu erheben.
Der Übertritt zum Judentum war allerdings nicht leicht. Die jüdischen Ritual und Speisegebote sowie die Vorschriften für den
Sabbat waren schwer zu befolgen. Beengend wirkten auch die Reinheitsgesetze, die den Eheleuten zum Beispiel sexuelle Kontakte
nur während eines halben Monats erlaubten, um jegliche menstruelle Verunreinigung auszuschließen. Für Männer stellte das Gebot
der Beschneidung sicherlich die größte Hürde dar. Ein derartiger Eingriff konnte im Erwachsenenalter und unter den ungenügenden
hygienischen Bedingungen jener Zeit durchaus zu ernsten Komplikationen oder zum Tod führen. All das musste abschreckend auf
jeden wirken, der es erwog, dem Judentum beizutreten. Die Rabbiner hatten diese Messlatte mit Absicht so hoch gelegt, um Israel
von religiösen Flattergeistern frei zu halten. So blieben viele, die mit dem Judentum sympathisierten, außen vor. Sie wurden
respektiert, aber nicht integriert.
Pharisäer sondern sich ab
Eine wichtige
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