Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
Rolle in der jüdischen Frömmigkeitsgeschichte spielten die Pharisäer: eine innerjüdische Frömmigkeitsbewegung,
die in einer der unruhigsten Epochen des Judentums in einer Zeit der allgemeinen Orientierungslosigkeit entstand. Zahllose
Sekten entsprossen damals dem blutdurchtränkten Boden von Palästina. Teilweise agierten sie mit Gewalt gegen die römischen
Besatzer, die so genannten Gojim oder »Ungläubigen«. Herodes, seit dem Jahr 37 vor unserer Zeit von den römischen Herrschern
als König eingesetzt, hatte zwar den Jerusalemer Tempel aus Esras Zeiten prächtig restauriert und gigantisch erweitert, doch
die Priesterliturgie und der Opferkult boten den Gläubigen keinen rechten Halt mehr. Der leitende Hohepriester und alle höheren
Bediensteten |120| des Tempels kamen nur mit Roms Segen ins Amt. In ihnen, wie in den Beamten des Herodes, sah man allgemein Kollaborateure der
verhassten Besatzungsmacht.
Die Pharisäer sonderten sich von diesem Treiben ab, sie waren fromme Aussteiger, Separatisten, wie ihr Name sagt. Wäre den
Juden das Klosterleben bekannt gewesen, hätten die frommen Pharisäer vielleicht als Mönche ihr Leben dem unaussprechlichen
Gottesnamen geweiht. Da sie diese Möglichkeit nicht hatten, machten die Pharisäer ihre ganze Welt zum Kloster. Die Frömmigkeit,
die dem Tempel abhanden gekommen war, lebten sie in ihren abgeschlossenen Kreisen neu und radikal.
Sie übertrugen die Reinheits- und Speisevorschriften des Tempelpersonals auf ihren persönlichen Alltag und lebten das Priestertum
aller Gläubigen. Die jüdischen Speisegesetze, vor allem die Zubereitung und der Verzehr des koscheren (reinen) Essens sind
kompliziert, und dazu gehört nicht nur das Verbot von Schweinefleisch oder das gleichzeitige Essen von Fleisch- und Milchspeisen.
In Israel und überall dort auf der Welt, wo viele Juden leben, gibt es auch heute Läden, die koschere Lebensmittel verkaufen,
und Restaurants, in denen man nicht nur koscher essen, sondern auch koschere Weine trinken kann. Die Herstellung der koscheren
Speisen und Getränke wird von Rabbinern überwacht, damit sie auch wirklich den Reinheitsgesetzen der Tora entsprechen und
der gläubige Jude nichts nach seinen Glaubenssätzen Unreines zu sich nehmen muss. »Offensichtlich ist Gott wirklich und konsequent
an unserer Nahrungsaufnahme interessiert«, meint Ahron Daum, ein deutscher Rabbiner, in seinem Buch
Halacha aktuell
. Und weiter: »Wenn ein Jude seine Hingebung an den Ewigen nur durch die Einhaltung von Moral und Ethik unserer Religion ausübte,
was würde ihn von jedem anderen, humanen Nichtjuden unterscheiden?« Der Rabbiner lässt Gott antworten: »Jedes Mal wenn du
deinen Mund öffnest, um Nahrung oder Trank einzunehmen, denke an mich.« Genauso dachten die Pharisäer schon damals. Sie radikalisierten
die Speiseanweisungen der Tora zum Zeichen ihrer verschärften Abgrenzung von den übrigen Zeitgenossen.
Speisen und Gefäße der gewöhnlichen Leute galten ihnen als religiös unrein. Da wurde schon der normale Einkauf zum Problem,
denn Weizen, Feigen, Öl und Datteln gingen durch die Hände von Unfrommen. Brachte der Händler Waren ins Haus, konnte die Wohnung
durch dessen Berührung verunreinigt werden. Es würde Seiten über Seiten füllen, wollte ich all jene einschränkenden Tabu-Gebote
auflisten, denen sich die Pharisäer freiwillig unterwarfen. Jeder |121| Akt der Unterscheidung zwischen Rein und Unrein galt der pharisäischen Frömmigkeit als Nachvollzug des Schöpfungsaktes, bei
dem Gott das Licht von der Finsternis schied.
Für eine derart penible Befolgung der religiösen Gesetze fehlt den meisten von uns heute das Verständnis. Die strikte Befolgung
der Tora, ihre Übererfüllung, empfand der Gesetzestreue damals allerdings nicht als Last, sie war sein Privileg.
Nach der Überlieferung des Talmud lehrte ein Rabbi namens Jehuda: »Drei Lobsprüche muss man täglich sprechen: Gepriesen sei
Jahwe, der mich nicht als Goi erschaffen hat, denn alle Gojim sind wie Nichts vor ihm; gepriesen sei er, der mich nicht als
Frau erschaffen hat, denn die Frau ist nicht zur Gebotserfüllung verpflichtet; gepriesen sei er, der mich nicht als Unwissenden
erschaffen hat, denn der Unwissende hat keine Bedenken zu sündigen.« Der völlige Tora-Gehorsam galt als Kennzeichen gottesfürchtigen
Lebens. Die pharisäischen Religionsspezialisten begaben sich damit in ein Getto, das alle anderen Juden
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