Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
Jahwes
Geschichte mit Israel beginnt bei Abraham, dem Urwanderer. Auch wenn Israel den Solidarpakt mit Gott bricht, dieser kündet
seine Solidarität mit Israel niemals auf. Nicht auf immer und ewig! Sein Volk bleibt auserwählt, trotz aller Strafgerichte.
»In dir sollen gesegnet werden alle Völker der Erde«, verheißt Jahwe dem Abraham.
»Alle Völker«: ein Hinweis auf die Universalgeschichte, die im Sechstagewerk ihren Anfang nahm. Bei ihrer Erschaffung gibt
Gott der Menschheit mit auf den Weg: »Macht euch die Erde untertan.« Eine absurde Vorstellung für einen Buddhisten oder einen
Anhänger des Taoismus. Wer würde sich die unmäßige Welt schon untertan machen, ihre unmessbaren Zeitkreisläufe steuern wollen?
Für sie ist die Welt, was der Fall ist. Sie kann nicht anders sein, unverrückbar, ein ewiges Auf-der-Stelle-Treten.
Anders, extrem anders sieht das die Hebräische Bibel. Sie erzählt im Anschluss an die Schöpfung, wie Adam und Eva die Welt
ins Chaos stürzen. Die Menschen mit ihrer Freiheit zum Guten wie zum Bösen können in das Weltgeschehen eingreifen. Damit wird
die menschliche Spezies zum Mittelpunkt aller Dinge. Die jüdische Welterfahrung, so wie sie die ersten Kapitel der Bibel widerspiegeln,
ist in der abendländischen Geschichte zur programmatischen Weltperspektive geworden. Ihr Auftrag ist, die Welt für den Menschen
passend zu machen, damit dieser sich entfalten kann. Entwicklungsgeschichtliches Denken wurde zur westlichen Leitidee, die
im Fortschrittsglauben der europäischen Aufklärung ihren endgültigen Durchbruch fand.
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|116| Christentum: Eine Vision
In diesem Kapitel möchte ich nicht nur das Christentum, sondern auch das nachbiblische Judentum vorstellen. Denn beide sind
Zwillingsreligionen, und ohne die gegenseitige Herausforderung wäre ihre Entwicklung völlig anders verlaufen.
Ausgangspunkt beider Glaubensrichtungen ist eine Verlusterfahrung: Die junge Jesusbewegung verlor ihren Führer, die Juden
wurden ein zweites Mal ihres Tempels beraubt. Beides geschah im selben Land, im selben Jahrhundert. Und jedes Mal war es die
Politik der römischen Besatzungsmacht, auf deren Konto die tragischen Ereignisse gingen.
Das Judentum der Synagoge
Christentum und Judentum reagierten ganz unterschiedlich auf die traumatischen Verluste. Die Jesusbewegung verstand sich fortan
als Geistreligion: »Der Beistand, der Heilige Geist, der wird euch an alles erinnern, was ich euch gesagt hatte«, so gibt
das Johannes-Evangelium die Worte von Jesus Christus, dem Auferstandenen, wieder. Das nachbiblische Judentum definierte sich
über Tora und Talmud, als »Volk des Buches« bezeichneten sich die Juden nun selbst. Es ist eine Religion ohne aufrauchende
Altäre und ohne Opfergaben, eine Religion ohne Priester. An deren Stelle treten die Rabbiner, gelehrte Männer, die sich dem
Studium der heiligen Überlieferungen widmen. Israels mündliche Tora, die gesammelten Lehren der Rabbiner, werden später in
dem umfangreichen Schriftwerk des Talmud festgehalten. Der Name »Talmud« stammt von dem hebräischen Wort »lamed« ab und bedeutet
Studieren, Lernen und Lehren. Die Synagoge, in der sich die jüdische Gemeinde zum Gottesdienst versammelt, ist eigentlich
kein kultisches Gebäude, sondern ein Lehr und Lernhaus.
|117| Freilich, die Rabbiner wissen, dass ihr Buchdienst nur einen unvollkommenen Ersatz für den erloschenen priesterlichen Opferdienst
darstellt. Darum hoffen sie unentwegt weiter auf einen neuen, den »Dritten Tempel«, errichtet an der Stelle, wo sich heute
neben der Al-Aqsa-Moschee die goldene Kuppel des Felsendoms erhebt. Im Himmel sei der messianische Tempel bereits baufertig
geplant, erzählt der Talmud, er warte nur auf die Zurüstung der Gläubigen. So nimmt es nicht wunder, wenn in der arabischen
Welt immer wieder Gerüchte auftauchen, die Israelis planten ein Attentat auf die Moscheen des Tempelbergs, um über den Trümmern
des Felsendoms den jüdischen »Dritten Tempel« zu errichten. Tatsächlich sind jüdische Splittergruppen bereits dabei, junge
Männer für den künftigen Altardienst auszubilden. Wie einst in der Antike sollen gesalbte Priester heute wieder das Volk entsühnen.
Gemäß der Tora: »Nehmt einen Ziegenbock zum Sündopfer und ein Kalb und ein Schaf, beide einjährig und fehllos, zum Brandopfer,
ferner ein Rind und einen Widder |118| zum Heilsopfer, um sie vor Jahwe zu
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