Die Weltreligionen. Vorgestellt von Arnulf Zitelmann
vergossen vor unseren Augen!« Der kalten Christenwut stellten
die Mainzer Juden ihren glühenden Märtyrerglauben entgegen, in der Gewissheit, am Tag des Letzten Gerichts als Ankläger vor
ihren Peinigern zu stehen. Man schrieb den 27. Mai des Jahres 1096.
Die Kreuzfahrer stürmen die Stadtmauer von Jerusalem, die Menschen fliehen.
|189| Ein Fanatiker auf dem Kalifenthron
Kehren wir zurück zum Massaker in der Al-Aqsa Moschee. Die unselige Kreuzzugsgeschichte hatte eine Vorgeschichte. Hundert
Jahre vor dem Sturm auf Jerusalem kam ein Kalif in Kairo an die Macht, der sich dem religiösen Terrorismus verschrieben hatte.
Der 25 Jahre alte Al-Hakim Bi-Amr Allah befahl im Jahr 1010 die Zerstörung der christlichen Grabeskirche in Jerusalem. Zu
ihr pilgerten jährlich Tausende von Christen aus ganz Europa. Denn in deren Katakombe sollte sich das Grab befinden, aus dem
der Erlöser nach drei Tagen auferstanden war. Eine Wallfahrt zur Grabeskirche versprach große himmlische Belohnung. Sie war
den Christen heilig wie die Kaaba den Muslimen in Mekka.
Was mag Al-Hakim zu dieser unerhörten Provokation getrieben haben? Es war nicht das erste Mal, dass der unfromme Eifer mit
dem jungen Kalifen durchging. Kaum hatte er auf seinem Thron Platz genommen, untersagte Al-Hakim den muslimischen Frauen,
sich schön zu machen, verhängte eine generelle Ausgangssperre über sie, verbot ihnen den Besuch öffentlicher Bäder und der
Friedhöfe. Juden wie Christen hatten schwarze Kopfbedeckungen und schwarze Gürtel zu tragen, im öffentlichen Bad bekamen Juden
ein Glöckchen, Christen ein Kreuz um den Hals gehängt. Damit nicht genug. Al-Hakim entheiligte die Gräber der Ungläubigen
und verhängte die Folter über alle nicht-muslimischen Beamten, um sich ihrer Loyalität zu versichern. Schließlich wechselte
er alle christlichen und jüdischen Beamten gegen Muslime aus. Nach der Zerstörung der Grabeskirche mussten die Glocken der
Christen im ganzen Reich schweigen. Viele Christen traten unter diesem Druck zum Islam über. Die Liste der Gräueltaten Al-Hakims
ist schier endlos, aber wir wollen es bei diesen Beispielen bewenden lassen.
Persönlich gab sich der Kalif asketisch bis zum Exzess. Sein Haar ließ er nicht schneiden, er kleidete sich nur in grobe Wolle
und wusch sich nicht mehr. Am Ende hielt er sich für die Inkarnation Allahs, des Höchsten. Im Alter von 36 Jahren verschwand
er spurlos während eines nächtlichen Spaziergangs. Wie so viele Muslim-Herrscher hat man ihn vermutlich beseitigt. Al-Hakims
Verfolgungswahn, die Grausamkeit des Mannes und seine Anmaßung, Gott zu verkörpern, machten ihn berühmt wie einst Nero, den
römischen Kaiser, der im Jahr 64 unserer Zeit die Christen Roms verfolgen ließ, um von dem gegen ihn gerichteten Verdacht
der Brandstiftung abzulenken.
Die Grabeskirche wurde restauriert. Doch die Kunde von Al-Hakims Gräueltaten gelangte über die Pilger ins christliche Europa.
Raubüberfälle auf |190| die christlichen Wallfahrer und das Vordringen der Seldschuken, eines alten türkischen Herrschergeschlechts, im Heiligen Land
brachten das Fass zum Überlaufen: Das Heilige Grab war in Gefahr! Die Päpste handelten. Urban II. rief 1095 zur Rückeroberung
des Heiligen Grabes auf.
»Das Vaterland des Herrn Jesus, das Mutterland der Religion, hat ein gottloses Volk in seiner Gewalt. Bewaffnet euch mit dem
Eifer Gottes, liebe Brüder, gürtet eure Schwerter, zieht aus, der Herr wird mit euch sein! Und wenn einer dort in wahrer Buße
sein Leben verliert, soll er gewiss sein, dass ihm die Vergebung seiner Sünden und der Genuss des ewigen Lebens zuteil wird!«
Zum ersten Mal in der tausendjährigen Geschichte des Christentums wird von allerhöchster Warte aus der Heilige Krieg proklamiert.
»Deus lo vult!« Gott will es! Das war der Schlachtruf der christlichen Ritter.
Die Päpste schätzten, das wissen wir heute, die Verhältnisse im Heiligen Land völlig verkehrt ein. Abgesehen von Al-Hakim
verbürgten sich alle muslimischen Herrscher für den Gottesfrieden an den heiligen Stätten, die schließlich auch dem Islam
heilig waren. Gewiss, die Zeiten waren unsicher, und besonders der exzentrische Al-Hakim hatte die Zügel schleifen lassen,
doch die Kalifen taten Jahrhunderte hindurch alles, um den Frieden in Jerusalem zu gewährleisten.
Wie tief die böse Erinnerung an die Zeit der Kreuzzüge sich dem Gedächtnis eingeprägt hat, zeigt das
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