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Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Titel: Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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ununterscheidbaren Babys zu posten. Sie schickt jedem neuen Mitglied der Spezies begeisterte Grüße und fragt sich, ob sie es je schaffen wird, selbst dieses Stadium zu erreichen. Wie Doro sie ohne große Subtilität zu erinnern pflegt, tickt ihre biologische Uhr unüberhörbar.
    »Wie war’s?«
    Am Sonntagmorgen lädt sich Ida auf einen Kaffee ein. Sie ist noch im Bademantel, einem türkisen Seidenkimono mit goldenen Brokatdrachen, die sich um ihre großen Brüste schmiegen. Ida muss mindestens Kleidergröße 44 haben, aber sie bewegt sich auf eine Art, dass Clara sich neben ihr linkisch und knochig fühlt.
    »Es hat nicht gefunkt.« Clara rührt den Kaffee um. »Ich glaube, es war der komische Schnurrbart. Wie ein Serienmörder.«
    »Aber doch ganz süß, oder? Und nebenbei stinkreich.«
    »Ha! Hätte ich das gewusst, ich hätte ihm nicht den Ellbogen in die Rippen gerammt«, schwindelt Clara, weil Ida ein bisschen ärgerlich wirkt.
    »Warum hast du das denn getan?«
    »Weil er die Finger nicht bei sich behalten konnte.«
    »Hättest du lieber, dass dich der langweilige Schuldirektor befummelt? Hey, du wirst ja rot!«
    Clara lacht.
    Wie wäre es, mit Mr. Gorst/Alan ins Kino zu gehen?, fragt sie sich, während sie die Croissants zum Aufbacken in den Ofen schiebt. Er würde sich nicht Iron Man aussuchen, so viel steht fest. Mit ihm würde sie etwas Tiefgründiges, Inspirierendes sehen. Würde er ihre Hand halten? Würden sie fummeln? Oder würde die Liebe leise über sie kommen wie die Morgenröte aus dem Osten?
    Er war so locker und liebenswürdig, als er neulich mit Oolie geredet hat.
    Auf dem Heimweg hatte Oolie gesagt: »Der war echt nett. Mit dem willst du bestimmt poppen, oder, Clarie?«
    Manchmal ist Oolie erschreckend hellsichtig.

Serge
    Mädchen
    Trotz des Verbots von Leerverkäufen haben die Aktien der Royal Bank of Scotland ein Fünftel ihres Werts eingebüßt. Das Finanzinstitut Bradford & Bingley steckt tief in der Scheiße und wird womöglich bald dem Beispiel von Northern Rock folgen. Der LIBOR schießt durch die Decke. Während alle um ihn herum von Panik gebeutelt werden, spürt Serge die Ruhe eines Tiefseetauchers, der sich tief unter allen oberflächlichen Turbulenzen bewegt. Da die Zahl der neubewilligten Hypotheken in Großbritannien einen nie gekannten Tiefstand erreicht hat, ist er vorübergehend entlastet und hat plötzlich mehr Zeit. Er kommt morgens später zur Arbeit und geht abends früher nach Hause. Keinem scheint es aufzufallen.
    Tag und Nacht verschmelzen zu einem blauen Rechteck von Online-Stunden. Wenn er nicht durch Chickens Umsätze stöbert, sieht er sich dessen E-Mails an (wobei er sorgfältig darauf achtet, jede Nachricht wieder als »ungelesen« zu markieren, bevor er sie schließt), und genießt dabei die Intimität, quasi durchs Windows-Schlüsselloch in die Seele seines Chefs zu spähen. Wie ein Lehrling, der seine zukünftige Berufung studiert, fängt er an, anhand von Chickens Online-Shopping-Orgien mittelbare Kompetenz zu entwickeln, was teuren Whisky, erschwingliche Kunst und handgefertigte Humidore angeht. (Leider kommt so gut wie keine Kleidung vor – Chicken trägt Maßanzüge.) Was würden wohl Doro und Marcus von all demZeug halten? Na ja, er weiß genau, was sie davon halten würden.
    Marcus würde sagen: »So ein nutzloser Humidor kostet mehr als der durchschnittliche Monatslohn eines Arbeiters in Doncaster.«
    Doro würde sagen: »Und genau so einen habe ich letzte Woche für 2,99 bei Oxfam gesehen.«
    Manchmal fragt er sich, ob sie wirklich seine Eltern sind oder ob ihn irgendein Schnippchen des Schicksals nach der Geburt seinen echten (viel wohlhabenderen) Eltern weggenommen und in Solidarity Hall abgegeben hat.
    Er lächelt. Der liebe Marcus, die liebe Doro, trotz ihres ergrauten Haars sind sie nie richtig erwachsen geworden. Sie sind in dem unschuldigen Vor-Konsumentenalter stecken geblieben, in dem er die Kiste mit den Fibonacci-Schneckenhäusern und den Kiefernzapfen unter seinem Bett gehütet hat – seine Kindheitsschätze, die ihm die Augen geöffnet haben für die ewige Schönheit der Mathematik. Plötzlich hat er einen Kloß im Hals.
    Diese aufgeputschten FATCA-Trader geben keinen feuchten Dreck für irgendetwas anderes als ihre Gewinn- und Verlustrechnung und wo sie ihren Koks herkriegen. Zwischen hektischen Trading-Episoden hört er, wie sie damit prahlen, was sie mit ihrem Bonus machen werden, und dabei Markennamen verspritzen wie Weihwasser.

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