Die Wesen (German Edition)
gesehen?“, fragte Laima, als Fetzen der Erinnerung an ein großes, helles Etwas zurückkamen.
„Ja, wir haben es auch gesehen“, sagte Slinkssons.
„Es hätte mich beinah erwischt“, sagte Laima.
„Irgendetwas ist mit diesem See“, sagte von Stein. „Niemand von uns hat auch nur eine Probe genommen. Ob es an Thian liegt, der das verhindern wollte, weiß ich nicht. Vielleicht will die chinesische Regierung etwas verbergen. Auf jeden Fall gehen wir leer aus. Ich will keinen zweiten Versuch riskieren. Wenn unsere Leben auf dem Spiel stehen, hört bei mir die Wissenschaft auf.“
„Stehen unsere Leben nicht schon die ganze Zeit auf dem Spiel? Von Anfang an?“
„Vielleicht, aber jetzt reicht es. Wir werden versuchen, in dem Kloster dort auf dem Hügel Hilfe zu bekommen. Wie es aussieht, hat es sie am schlimmsten erwischt, Laima.“
Sie versuchte aufzustehen und merkte, dass es nicht ging. Ihr Körper war zu schwach.
„Hätten wir nicht zufällig unter der Oberfläche ihre Lampe gesehen, wären sie bestimmt nicht mehr bei uns, meine Liebe“, sagte Professor Carlsen. „Mein Assistent war so freundlich, sie aus dem Wasser zu holen.“
„Es war reines Glück!“, sagte Figaro Slinkssons.
„Nicht so bescheiden, mein Lieber.“
Sie wickelten Laima in Rettungsdecken. Die dünnen silbergoldenen Plastikplanen knisterten. Laima fühlte sich wie ein Fisch in Alufolie, aber es wurde ihr schnell wärmer. Dann fingen die Andren an, das Lager abzubauen. Als sie schließlich fertig waren, legten sie Laima in ein trockenes Schlauchboot, das sie als Trage benutzten. Sie trugen sie um den See herum, zu dem kleinen Kloster, von dem sie sich Hilfe erhofften.
Der Hügel zum Kloster war steil. Laima schaukelte zwischen Figaro Slinkssons und Sam hin und her wie in einer Hängematte. Als sie sich dem Kloster näherten, hörten sie, wie ein tiefer, monotoner Gesang über die Mauern wehte. In Laima vibrierten die dunklen Stimmen und riefen ein eigentümliches Gefühl hervor.
Als sie vor dem Tor angekommen waren, hob von Stein den schweren Türklopfer und ließ ihn gegen das Holz schlagen. Der Gesang brach nicht ab. Es war als hätte niemand von ihnen Notiz genommen. Von Stein wollte erneut nach dem Klopfer greifen, als sich die Tür öffnete.
Das freundliche Gesicht eines alten Mönchs erschien. Er war in orangefarbene Gewänder gehüllt.
„Verstehen sie unsere Sprache?“, fragte von Stein.
„Ein wenig“, antwortete der Mönch und lächelte.
„Wir brauchen ihre Hilfe!“
„Dann kommen sie doch herein, statt vor der Tür zu stehen“, sagte er.
Laima hob den Kopf und sah den bunten, reich verzierten Fries und die geschnitzten Figuren. Dann wurde sie in einen Tempel getragen und Slinkssons und Sam stellten sie ab. Der Professor und Schüssli halfen ihr aus dem Boot und legten sie auf eine Matte.
„Wir sind im Rakshastal getaucht und hatten einen Unfall“, sagte von Stein.
Der Mönch machte ein besorgtes Gesicht.
„Hat sie von dem Wasser getrunken?“
„Ja, sie wäre fast umgekommen. Wir haben sie wiederbelebt und ihr das Wasser aus den Lungen gepumpt.“
„Das ist nicht besonders gut, fürchte ich! Das Wasser des Rakshastals ist kein gutes Wasser. Sein Geist ist nicht gemacht, Gutes zu tun. Er ist der Dunkle. Der Teufelssee, falls sie verstehen. Wenn wir nicht bald eine Medizin bekommen, wird es für ihre Freundin keinen Weg zurück ins Leben geben.“
„Aber es geht ihr doch gar nicht so schlecht“, sagte Schüssli.
„Das hat nichts zu bedeuten. Wir leben schon seit Jahrhunderten hier und kennen die Auswirkungen des Sees. Sonst hat niemand von ihnen vom Wasser getrunken?“
Sie schüttelten den Kopf.
„Gut!“
„Was heißt gut?“, sagte Schüssli. „Wo kriegen wir denn jetzt ein Gegenmittel her?“
„Es gibt nur eine Möglichkeit.“
„Welche?“
„Alles ist aufeinander abgestimmt. Wenn es den Tod gibt, gibt es auch das Leben.“
„Und weiter?“
„Oben auf dem Berg.“
„Auf dem Kailash?“
„Ja. Nur dort.“
„Aber niemand kommt da rauf“, sagte von Stein. „Nicht wegen seiner religiösen Bedeutung meine ich. Niemals hat je eine Expedition es geschafft. Noch nie hat es eine erfolgreiche Besteigung gegeben. Der Berg wird es nicht zulassen. Wie sollen wir es dann schaffen?“
„Das stimmt. Er gilt als das Zentrum des Universums. Niemandem ist es erlaubt, ihn zu besteigen. Er ist die Achse aller Welten und verbindet sie miteinander. Nicht nur, dass er das
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