Die Wesen (German Edition)
wenige E-Mails im Jahr, aber sie wusste immer, dass er für sie da war.
Ohne Gepäck kam Laima aus dem Ankunftsbereich des Flughafens in Zürich. Ein kurzer Gedanke, ob ein Kommando aus Trenchcoatträgern sie erwartete. Lediglich ein rothaariger, schüchtern wirkender Mann, der wenig älter als sie selbst war, wartete mit einem Schild in der Hand, auf dem ihr Name stand.
„Frau Liepa?“, fragte er, als sie auf ihn zukam.
Sie nickte.
„Schüssli, mein Name. Roger Schüssli. Ich heiße sie im Namen der Bione Corporation herzlich willkommen. Herr von Stein bedauert sehr, sie nicht selbst abholen zu können, aber er lässt ihnen mitteilen, dass er heute Abend alle Expeditionsteilnehmer zu sich zum Essen einlädt. Ich darf sie derweil in ihr Hotel bringen.“
Ein Chauffeur hielt ihr die Tür der Limousine auf. Nach einer kurzen Fahrt erreichten sie das Grandhotel, das oberhalb des Zürichsees lag. Laima stieg aus. Das Wetter war herrlich. Der Blick reichte über den See bis zu den Alpen. Wie Wellen aus Stein, die plötzlich innehielten, erschienen ihr die Berge mit ihren weißen Spitzen, Schaumkronen aus Eis.
Die Türmchen der Fassade verliehen dem Hotel ein romantisches Aussehen.
„Ein ehemaliges Kurhaus. Das Beste am Platz“, sagte Roger Schüssli. „Reisen sie ohne Gepäck, wenn ich fragen darf?“
„Ich hatte keine Zeit zum Packen“, sagte Laima.
„Dann statten sie sich doch in der Boutique des Hotels aus. Selbstverständlich auf Kosten der Bione Corporation.“
Er begleitete sie noch zur Rezeption, wo eine Suite für sie reserviert war.
„Ich werde sie dann, zusammen mit den übrigen Gästen, um halb acht heute Abend abholen. Genießen sie bis dahin ihren Aufenthalt.“
Ein Page geleitete sie hinauf. Alles war luxuriöser, als Laima es je erlebt hatte. Noch nie hatte sie in einem derartigen Hotel übernachtet. Der Charme des alten Gebäudes mischte sich auf angenehme Weise mit modernem Design. Sie ließ sich auf das Doppelbett fallen. Es fühlte sich an wie auf einer Wolke. Sie nahm die kleine Schokolade, die auf ihrem Kopfkissen lag, und schälte sie aus dem Papier. Es war ein Genuss. Ihr ganzer Körper entspannte sich nach der Hetzjagd der letzten zwei Tage. Ein kleiner Zettel fiel aus der Schokoladenverpackung, als sie damit herumspielte. Er sah aus wie die Zettel aus den chinesischen Glückskeksen. Hatten die Schweizer diese originelle Idee nun auch für ihre Schokoladen entdeckt?
Sie machte ihn auf.
TRAUEN SIE NIEMANDEM. SCHON GAR NICHT SICH SELBST.
Laima war überrascht. Es schien ihr ein sonderbarer Rat für einen Glückskeks. Sie nahm die Schokolade vom Kissen auf der anderen Seite des Betts und packte sie aus. Der Geschmack war derselbe. Einen Zettel enthielt auch sie.
TRAUEN SIE NIEMANDEM. SCHON GAR NICHT SICH SELBST.
Sie zog die Augenbrauen hoch. Das war doch ein seltsamer Zufall. Oder wollte ihr jemand etwas sagen?
So sehr sie diese Frage auch beschäftigte, sie musste als Erstes etwas Schlaf nachholen. Es gab einen kleinen Wecker mit hoteleigenem Aufdruck. Zwei Stunden sollten genug sein. Danach hatte sie immer noch Zeit, alles zu erledigen, was sie noch vorhatte.
Sie dachte über die eigenartige Botschaft nach, dann an ihre Mutter und war im nächsten Augenblick bereits eingeschlafen.
Sie träumte von Verfolgungsjagden, in denen dunkle Männer aus schwarzen Schokoladenpapieren stiegen und hinter ihr her waren. Ihre Schüsse machten untypische, piepende Geräusche. Es war der Wecker, stellte sie fest, als sie erwachte. Es dauerte eine Weile, bevor sie verstand, wo sie war.
Bei allem wunderte sie sich, wie wenig sie noch an Tooms dachte. Er war ihr gleichgültig. Das überraschte sie.
Sie zog ihre alten Sachen an, die nicht besonders gut rochen, und beschloss, erst nach ihrem Einkauf zu duschen, da es sonst nicht viel helfen würde. Sie fuhr hinunter in die Lobby. An der Rezeption fragte sie nach dem Hotelladen.
„Sagen sie, sind dies die schweizer Glückskeksschokoladen?“, sagte Laima, als sie ein Glas von ähnlichen Schokoladen auf dem Tresen stehen sah wie auf ihrem Kopfkissen.
„Entschuldigung, Madame. Ich fürchte, ich habe ihre Frage nicht verstanden“, sagte der Empfangschef.
„Sind dies die gleichen Schokoladen wie die auf den Zimmern? Die sie auf die Kopfkissen legen?“
„Aber ja, Madame. Bedienen sie sich bitte.“
Laima steckte ein paar ein.
„Und könnten sie mir wohl sagen, ob ein gewisser Professor Carlsen bereits
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