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Die Wesen (German Edition)

Die Wesen (German Edition)

Titel: Die Wesen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Lux
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die Helligkeit gewöhnen mussten.
    Ihnen eröffnete sich der Blick auf ein breites, steil und tief abfallendes Tal. Genau unter ihnen schoss der Fluss des Wasserfalls aus den Felsen in die Tiefe. Ein unglaublich großer und schöner Regenbogen leuchtete in der Gischt direkt vor ihnen auf.
    Roger Schüssli machte einen taumelnden Schritt rückwärts, als er die Kante der Felsen sah. Dann ließ er sich auf alle Viere fallen.
    „Sie wollen doch nicht krabbeln?“, sagte von Stein.
    „Ich, ich weiß nicht ...“
    „Vielleicht sollten wir ihm Scheuklappen anlegen wie einem Pferd“, sagte Sam. „Dann muss er den Abgrund nicht sehen.“
    Der Weg führte an der Felswand entlang.
    „Oder du nimmst ihn huckepack, wenn der Esel bockig wird“, sagte Figaro Slinkssons.
    „Also Esel verbitte ich mir. Nur weil ich an der Höhenkrankheit leide, heißt es noch nicht, dass ich mich deswegen diskriminieren lassen muss.“
    „Na, auf allen Vieren siehst du ziemlich nach einem Rindviech aus, Roger“, sagte von Stein. „Du hast doch nicht vor, wie ein Käfer zu krabbeln?“
    „Sie werden einfach mit dem Gesicht zur Felswand laufen“, sagte Professor Carlsen. „Versuchen wir es doch mal.“
    „Sehen sie, selbst die Ziegen trauen sich nicht hier raus“, sagte Schüssli.
    Tatsächlich blieben sie alle im Schatten der Klamm und starrten auf sie hinunter.
    „Wer ist hier nun das Rindvieh?“, sagte Schüssli.
    Langsam, wenn auch mit deutlichem Widerwillen, stand er auf und drehte sich mit dem Rücken zum Abgrund.
    „Es ist genug Platz, dass Sam zwischen ihnen und der Schlucht gehen kann, sodass ihnen nichts passieren wird“, sagte der Professor.
    Sam versuchte mit Gesten hinter Schüsslis Rücken abzuwinken, aber Professor Carlsen gab ihm zu verstehen, dass Sam ebenso wie Schüssli seinem ärztlichen Rat zu folgen hatte.
    Zwischen den riesigen Bergen kam sich Laima mit ihren Sorgen verschwindend klein vor. Sam und Schüssli schafften es ganz gut bei dem gemächlichen Tempo des Dropaolat mitzuhalten, der wieder seinen Gesang angestimmt hatte und dazu im Takt die Rassel erklingen ließ.
    „Ich kann mir nicht helfen“, sagte Slinkssons. „Wenn mir jemand von dieser Prozession von Höhenkranken mit ihren Betreuern und diesem Schamanen erzählt hätte, würde ich laut lachen.“
    „Und jetzt stecken sie selbst mittendrin“, sagte Laima, die eine leichte Schadenfreude nicht verbergen konnte.
    Der Weg stieg vor ihnen an, um sich kurz darauf wieder in die Tiefe zu stürzen.
    „Wenn jetzt einer ausrutscht, kegeln wir alle direkt ins Jenseits“, sagte Slinkssons leise zu Laima.
    „Das habe ich gehört“, sagte Schüssli. „Wenn sie nicht damit aufhören, uns hier Angst zu machen ...“
    „Was dann?“, fragte Slinkssons.
    „Nun aber Schluss“, sagte von Stein.
    „Figaro, ich darf von meinem Assistenten etwas mehr Beherrschung erwarten, reißen sie sich zusammen. Ein Streit in dieser Situation ist wohl kaum das, was uns noch fehlt!“, sagte der Professor.
    Laima wurde mit einem Mal ganz schlecht. Was war, wenn die Situation eskalierte? Sie schwebten gerade alle in akuter Gefahr. Der Attentäter war seinem Ziel so nah wie nur überhaupt. Es reichte, mit einer schnellen Geste einen nach dem andren in die Tiefe zu stoßen. Ohne Tricks, ohne technische Manipulation. Sie durfte nicht die Nerven verlieren.
    Lag ihre Nervosität an der Umstellung zur Höhenluft? Oder hatte Figaro Slinkssons eben erneut versucht, seinen Vorteil zu provozieren? Unheil heraufzubeschwören, um leichtes Spiel zu haben und zu Ende zu bringen, was gestern gescheitert war?
    Sollte es zu einem Handgemenge kommen, war die Gefahr groß, dass auch Slinkssons selbst in den Abgrund gerissen wurde. Da fiel es ihr ein. Ein Schauer überkam sie. Wenn er wie im Flugzeug schon den einzigen Fallschirm an sich genommen hatte? Er würde einen Sturz in die Tiefe einfach in Kauf nehmen.
    Sie musste versuchen, sich zu beruhigen. Ihre Gedanken fingen an, ungewollte Sprünge zu machen. Das war nicht ratsam, wenn sie die nötige Ruhe bewahren wollte. Sie versuchte, tief und gleichmäßig durchzuatmen. Ihr Puls und ihre Gedanken rasten.
     
    Laima entdeckte einige große Vögel, die in der Ferne majestätisch auf der Strömung des Windes dahinglitten.
    Nach einer Kurve gabelte sich der Pfad. Ein Teil folgte der Außenseite des Berges, während der andere in eine dunkle Kluft führte. Sie war jener ähnlich, in der die Dropa lebten, nur dass sie noch schmaler war. Alle

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