Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wesen (German Edition)

Die Wesen (German Edition)

Titel: Die Wesen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Lux
Vom Netzwerk:
Professor Carlsen.
    „Solch eine Art der Bestattung ist in den Bergen bei indigenen Völkern recht verbreitet“, sagte Laima.
    „Also Mumien sind mir da fast lieber. Trotzdem, ich weiß nicht?“, meinte Schüssli.
    „Keine Widerrede“, sagte von Stein, „wir gehen alle. Wenn uns die Dropa schon diese Ehre erweisen, sollten wir uns auch ihrer würdig zeigen.“
     
    Sie versammelten sich vor der großen Höhle und warteten auf den Dropaolat, der nach kurzer Zeit zu ihnen stieß.
    „Was hat er denn für einen Wanderstab dabei?“, sagte Sam.
    „Sieht aus wie eine Rassel aus Kronkorken“, sagte Schüssli.
    Der Dropaolat ging voran und stimmte einen tiefen kehligen Gesang an, als er vor ihnen herschritt. Mit jedem Schritt, den er machte, stieß er rasselnd mit dem Stab auf.
    Es war ein eigentümlicher Gesang, der in Verbindung mit dem schellenden Stock einen ruhigen Fluss in Laima in Bewegung brachte. Langsam und bedächtig schritt er voran und alle waren gezwungen, diesem Rhythmus zu folgen. Laima sah auf seinen schwarzen Hut mit den bunten Bändern. Er erschien ihr etwas zu groß, aber sie maß dieser Tatsache keine weitere Bedeutung bei. Sie folgten dem Weg, den auch Kapitän Ranjid am Vortag gegangen war. Der Junge, der ihn begleitet hatte, war noch nicht zurückgekehrt. Offenbar befanden sie sich weit weg von jeglicher Zivilisation. Sie durchwanderten das schmale Tal der Dropa, das sich hinter der Flanke des Berges verbarg. Hinter ihnen rauschte der Wasserfall, der die Kluft mit feuchtem Nebel füllte.
    Die Ziegen folgten ihnen eine Weile. Sie sprangen über ihren Köpfen von einem Felsen zum nächsten. An einigen Stellen war die Schlucht über ihnen so schmal, dass die Ziegen von der einen auf die andere Seite wechselten.
    Laima genoss die Ruhe, die durch die sanften Schritte des Dropaolat in ihr entstand. Sie fühlte sich sicher, auch wenn sie wusste, dass unter ihnen ein Mörder war. Sie entspannte sich und dachte automatisch an Chang. Es war ein doppelt gutes Gefühl.
    Tooms tauchte nur noch als dunkler Schatten am Rande ihrer Erinnerungen auf. Er hatte nicht mehr die Macht, sich in den Mittelpunkt zu drängen. Er war von selbst verschwunden und schlich nur noch in der Ferne durch das Halbdunkel, in dem er bereits verblasste.
    Wie eigentümlich es doch war, dass man über Jahre einen Menschen liebte, ihn zum Mittelpunkt seines Lebens machte und er mit einem Mal verschwand, dachte Laima. Von einem Tag auf den andren, als wäre er nie da gewesen. Sie fühlte ihm gegenüber nichts mehr. Weder Zorn noch sonst etwas. Er war ihr völlig gleichgültig. Und gerade das erschreckte sie. Verhielt es sich nicht mit vielen andren Überzeugungen im Leben ebenso?
    Man verteidigt den Geliebten gegen jede Anfeindung, wie man es mit einer Anschauung auch macht, dachte sie. Die Eltern mögen den Freund nicht, den man für die Liebe seines Lebens hält, weil sie schon wissen, dass er es nicht ist. Sie haben ihn durchschaut, noch bevor er selbst es weiß. So kämpft man für eine Idee, eine Ideologie und stellt zum Schluss fest, was man eigentlich für einen Mist verteidigt hat. Hatten ihre Eltern es gewusst? War er wirklich der Falsche gewesen?
    Vielleicht musste es so sein? Vielleicht musste man all die Irrwege gehen? Im tiefsten Brustton der Überzeugung gegen jeden schimpfen, der die endgültige Wahrheit, die man gefunden zu haben glaubte, nicht hören wollte. War es nicht kindisch? War das alles nicht zutiefst albern?
    Aber was sollte daran falsch sein, wenn alle es taten?
    Laima kam es auf ein Mal so unerklärlich unnütz vor, mit aller Macht an seinen Überzeugungen festzuhalten. Und warum hatte sie das vorher nie gesehen? All diese Wissenschaftler, Politiker, Eltern, Lehrer. Sie alle wussten, was das Richtige war. Fünf Minuten, fünf Jahre, fünf Jahrzehnte, fünf Jahrhunderte später war alles anders. Alles hatte schlagartig oder langsam seine Gültigkeit verloren. Schleichend, aber endgültig.
    Wurde sie gerade verrückt? Fühlte es sich so an, verrückt zu werden? Wurde man verrückt, wenn man über nichts mehr die Kontrolle hatte? Wenn sich Verrücktwerden so anfühlte, dann war es gar nicht so ein übles Gefühl.
    Sie näherten sich dem Ende der Schlucht und das grelle Licht der Sonne strahlte ihnen entgegen. Der Dropaolat wickelte sich einen Schal vor das Gesicht. Er schien darauf bedacht, seine Haut nicht der direkten Sonne auszusetzen. Laima blinzelte, da ihre Augen sich an den strahlend blauen Himmel und

Weitere Kostenlose Bücher