Die Wiedergeburt (German Edition)
bin hier oben weit und breit der einzige Mensch.“
„Was treibt einen alten Mann in eine so einsame G e gend? Ein Schamane sollte bei seinem Stamm bleiben und den Menschen Hilfe und Beistand bieten.“
„Das ist eine lange Geschichte, junger Larkyen“, sagte Ojun. „Zu lang für diesen Moment. Gerne jedoch erzähle ich sie dir ein anderes Mal. Du aber solltest dich weiter ausruhen.“
Larkyen schüttelte den Kopf.
„Mir gehen diese Bilder nicht mehr aus dem Kopf“, flüsterte er. „Wie die Kedanier meine Leute töteten. S o bald ich die Augen schließe, sehe ich Blut in Strömen fließen, und ich sehe ihre Köpfe, wie sie über den harten Boden rollen. Ich sehe den Leichnam meines Weibes, den leeren Blick ihrer Augen. Und ich konnte nichts tun, konnte nichts daran ändern.
Ich glaubte einmal zu wissen, was es heißt, ein N o made zu sein. Seit ich denken kann, bin ich mit den Y e sugei durch die Steppenlandschaft Majunays gezogen, vom Kharasee bis zum Fluss Nefalion weit im Osten. Ich war immer an ihrer Seite, kümmerte mich um das Vieh und lernte, ein guter Reiter zu werden. Doch all meine Anstrengungen waren umsonst, weil ich ihnen in der schwersten Not nicht beistehen konnte.“
Larkyen war sich im Klaren darüber, dass so vieles aus seiner Vergangenheit ihm nicht mehr von Nutzen sein konnte. Was hieß es jetzt noch, ein Nomade zu sein? Die Nomadenstämme in ihrer Friedfertigkeit glaubten, dass die Steppe mit ihren unendlichen Weiten für alle genug Platz zum Leben bot. Konflikte mit anderen Stämmen waren ihnen, die die Nähe von Fremden stets gemieden hatten, so gut wie unbekannt. Zweifellos war das Leben in der Natur ein Ringen und Kämpfen gegen ihre Wide r stände. Anpassung konnte über Leben und Sterben en t scheiden. Ein Nomade maß seine Kräfte lediglich mit den Jahreszeiten, die ihm vertraut waren wie sonst keinem. Doch egal, wie sehr Witterung und schwere Arbeit einen Nomaden abgehärtet hatten, so schien es doch, dass die gegenwärtigen Tage nur denen gehörten, die Erfahrung im Kampf mit dem kalten Stahl hatten.
Die Zeit des Krieges gehörte den Kriegern.
Larkyen trat ein paar Schritte hinaus in die Dunke l heit, atmete tief durch und starrte lange und nachdenklich in die Nacht. Ojun, der ihm nachgegangen war, legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter und sagte:
„Die Dunkelheit der Nacht lässt unsere Sorgen und Nöte mitunter so gewaltig erscheinen, dass sie uns erdr ü cken können.“
Trotz seiner langen Einsamkeit konnte der Schamane die Gefühle eines Menschen noch gut nachvollziehen.
Larkyens Wunsch, das Leben eines Nomaden wieder aufzunehmen, war unendlich groß, doch er würde sich nicht erfüllen, das wusste er.
Die Realität war ein Ort von unermesslicher Härte, der nur durch gute Erinnerungen Einhalt geboten werden konnte.
Er versuchte, sich an das Gesicht seiner Adoptivmu t ter Tsarantuya zu erinnern, an ihr gütiges und fürsorgl i ches Lächeln, aber auch an die tiefe und markante Sti m me seines Adoptivvaters Godan, wenn er nach ihm rief. Die langen Ausritte mit Alvan durch die weite Steppe, zu den Herden der wilden Pferde. Der Mittelpunkt all dieser Momente war stets Kara gewesen.
Larkyen überlegte, wie es wohl gewesen wäre, das gemeinsame Kind im Arm zu halten, dessen kleine Finger nach seiner Hand tasteten. In Kinderaugen zu blicken, um darin seine eigenen Augen zu erkennen. Als Vater wollte er Vorbild sein und Schutz geben, um sein Kind bis ins Erwachsenenalter zu begleiten. Larkyen hatte all das g e ben wollen, was er selbst durch die liebevolle Fürsorge seiner Adoptiveltern erfahren hatte.
Es hatte sogar Tage gegeben, an denen er sich das große Abenteuer gewünscht hatte. Nun steckte er mitten drin und trauerte um den friedlichen Alltag und die Me n schen, die mit ihm ihr Ende gefunden haben.
„Larkyen“, sagte Ojun. „Begib dich in die Jurte; frei von Unruhe und Sorgen sollst du diese Nacht sein. Ruhe dich auf den Fellen aus und schlafe.“
Vielleicht hatte der alte Schamane Recht. Schlafen schien in diesem Moment die beste Lösung zu sein. Schlafen, um aufzuwachen und festzustellen, dass alles nur ein b ö ser Traum gewesen war.
Er ging zurück zu der Jurte. Bevor er eintrat, drehte er sich noch einmal zu dem alten Mann um und verbeugte sich tief, wie es im Osten der Welt Brauch war.
Sein Schlaf in dieser Nacht war frei von Sorgen und bösen Träumen.
Der nächste Tag war sonnig und angenehm warm. Der Sommer zeigte sich noch
Weitere Kostenlose Bücher